Gespräch mit einem Heimatschriftsteller

Jetzt sag mal: Warum schreibst du eigentlich?

Ziel meiner Arbeit ist es, zu schreiben für meinen Landstrich und gegen die, die ihn jemals usurpierten, heute usurpieren oder später usurpieren werden.

Warum sprichst du von «meinem» Landstrich und nicht von «meinem» Land?

Weil «mein Land» hier und heute die Schweiz, also «meinen Nationalstaat», bedeuten würde. Dafür aber schreibe ich nicht. Ich schreibe für den Landstrich, der zwei Dimensionen hat: einen geografischen und einen sozialen. Das Zentrum meines Landstrichs ist mein geografischer und mein sozialer Standort. Von dort aus schreibe ich für jene Leute und Räume, mit denen ich etwas zu tun habe; sie sind «meine» Leute und «meine» Räume.

Macht dich eine solche Sicht nicht zu einer jener jämmerlichen Gestalten, von denen deine Zunft im 20. Jahrhundert voll ist – zum chauvinistischen Heimatschriftsteller?

Ich sage «mein Landstrich», weil ich der Meinung bin, dass ehrlicherweise niemand mehr kann als für seinen Lebensraum zu sprechen. Wenn alle Schriftsteller, dort wo sind, also in ihrem Landstrich, ihre Arbeit ernst nehmen, so dient das allen Menschen. Wenn der Markt dagegen mehr und anderes will, zum Beispiel Literatur, die er überall auf der Welt verkaufen kann, ist das sein Problem. Er löst es bekanntlicherweise damit, dass er die Schreibenden mit sozialem und ab und zu sogar mit ökonomischem Kapital ködert, damit sie in einer international vermarktbaren Wohltemperiertheit schreiben – in der Musik bedeutet Wohltemperiertheit bekanntlicherweise, die Instrumente so zu stimmen, dass sie in keiner Tonart rein, dafür in allen Tonarten akzeptabel tönen. In diesem Sinn braucht der Markt literarische Sprachen, die nirgends präzis sein wollen, aber gerade deshalb für möglichst viele etwas heissen können und soweit im Ungefähren bleiben, dass sie nicht leiden, wenn man sie übersetzt.

Das Wort «Weltliteratur» stand immer für Scharlatanerie. Der Begriff war ursprünglich, das heisst 1827 in der Fassung von Goethe, Teil der Ideologie eines aufklärerischen Universalismus. Heute ist Weltliteratur nichts mehr als ein Verkaufsargument der interkontinentalen Kulturindustrie. Weltliteratur ist ein Plattitüdenuniversum aus lauter wohlklingenden Sätzen, die überall irgendetwas bedeuten, aber nirgends genau treffen – Sätze, mit denen alle Welt einverstanden sein kann, und die gerade deshalb nichts taugen. Niemand kann für die ganze Welt sprechen oder die ganze Welt in der Sprache abbilden. Kurzum: Niemand kann mehr als für seinen Landstrich reden.

Also doch Heimatschriftsteller?

Ich habe kein Problem damit, zu jenem geografischen und sozialen Raum zu stehen, in dem ich lebe, und ich habe kein Problem damit, als Heimatschriftsteller zu gelten, solange auch für mich gilt: Sätze, mit denen alle Welt einverstanden sein kann, taugen nichts. Das Problem der schweizerischen Heimatschriftsteller in der Zeit der Geistigen Landesverteidigung war ja nicht, dass sie Heimatschriftsteller waren, sondern dass sie sich dazu missbrauchen liessen, Sprachrohr der herrschenden Interessen zu sein. Sie trugen mit ihrer Kritiklosigkeit jene Ideologie mit, die besagte, dass die strikte politische Neutralität deshalb zu verteidigen sei, weil sie es ermögliche, mit allen Geschäfte machen zu können und in der Praxis dazu führte, dass sich die Schweiz noch an jenem Gold bereicherte, dass die Nazis in den Konzentrationslagern aus den Kiefern der Ermordeten gebrochen haben. Heimatliteratur muss autonom sein von den Vorgaben der herrschenden Ideologie. Das ist eine grosse Forderung: Es ist schwierig, unter seinesgleichen für seinesgleichen zu schreiben und unabhängig zu bleiben. Im übrigen halte ich es mit Beat Sterchi, der letzthin auf die Frage, ob er «Berner Literatur» mache, antwortete: «Das Bernische an sich interessiert mich […] nicht so wahnsinnig. Bern ist einfach mein Thema, weil ich hier die Welt verstehe.»[1] Das ist bedeutend aufrichtiger und überzeugender als die Argumente der Jetset-Literaten und -Literatinnen, die mit touristischem Blick einen Roman über Rom, Berlin, Paris oder New York schreiben, wenn ihnen ein Stipendium einen Kurzaufenthalt in einer dieser Städte ermöglicht.

Du sagst, du wollest schreiben «für meinen Landstrich und gegen die, die ihn jemals usurpierten, heute usurpieren oder später usurpieren werden». Ist das nicht zuviel des wohlfeilen Pathos?

Von meinem Anspruch her ist es mehr. Der Anspruch ist, mit dem Schreiben meinen Landstrich gegen jene zu verteidigen, die  ihn wie auch immer beherrschen wollen. Herrschaftsstrukturen mögen unter einem gewissem Blickwinkel notwendig sein, sie werden aber sicher gemeingefährlich, wenn sie nicht jederzeit kritisiert, in Frage gestellt und bekämpft werden. In diesem Punkt ist vor allen anderen Ausdrucksmitteln das Schreiben nicht dispensiert. So nötig es ist, dass es sich, wie jede Kunst, autonom von den Vorgaben der herrschenden Ideologie – also heute zum Beispiel vom Neoliberalismus – entfalten kann, so nötig ist es andererseits, die Grenzen dieser Autonomie zu sehen. Kunst, konkret das Schreiben, das sich autonom von seiner geografischen und sozialen Welt und deshalb allgemeingültig wähnt, steht mit seiner opportunistischen Stromlinienförmigkeit für die dekadente Kehrseite der Moderne. Kunst – und also auch Literatur – muss sich jederzeit bis zum äussersten für ihre Autonomie wehren, um sie zugunsten einer Partei freiwillig aufgeben zu können – Kunst, die Autonomie als Selbstzweck verteidigt, ist art pour l’art. Wer die Autonomie nicht zugunsten der Usurpierten aufgibt, hält es mit den Usurpierenden. Die Dummheit der Selbstzweckkunst bildet sich ein, es reiche, dem Entweder-oder der Welt ein möglichst buntschillerndes Sowohl-als-auch entgegenzustellen. In der Literatur gibt es viele, die besser schreiben als denken können. Das sind die Sowohl-als-auch-Artisten und -Artistinnen. Weisst Du, ich meine, man muss die ästhetischen Probleme nicht dort komplex machen, wo sie in Wahrheit einfach sind. Jede ästhetische Praxis ist Teil einer ethischen Praxis. So einfach ist das.

[1] Interview mit Stefan von Bergen, in: Berner Zeitung, 16.05.1998.

(31.12.1997; 21./22.05.1998; 05.04.2008; 17.11.2017; 03.07.2018)

 

Nachtrag 1

Eine Ästhetik, die sich von jedem ethischen Fundament lossagt, produziert das Blattgold, mit dem sich die herrschenden Verhältnisse noch so gern schmücken.

(10.8.2006)

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