Nur wo Kultur war, wird Kunst möglich. Ein Thesenspiel

 

1.

Kultur. – «Kultur ist alles, was dem Individuum erlaubt, sich gegenüber der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufinden, alles was dazu führt, dass der Mensch seine Lage besser begreift, um sie unter Umständen verändern zu können.» (Europarat) Darüber hinaus gilt für mich: Kultur ist interaktiv, sinn- und identitätsstiftend, Kultur hat ihre Zeit und ein Ende, danach verschwindet sie entweder oder sie verfestigt sich zum künstlerischen Produkt. Darum ist jede kulturelle Manifestation in erster Linie Prozess. Insofern kulturelle Prozesse heute überhaupt als «Kultur» – und nicht als Störung der öffentlichen Ordnung oder als soziale Auffälligkeiten – wahrgenommen werden, gelten sie in aller Regel als «Subkultur».

2.

Kunst und Kunst-Industrie. – Kunst ist werkhaft. Sie ist immer und überall Kunst nur insofern, als sie einem Publikum von der sie umgebenden Nicht-Kunst abgrenzbar erscheint. Deshalb ist jede künstlerische Manifestation in erster Linie ein Produkt. Kunst ist deshalb Pseudokultur. Kultur-Industrie ist immer Pseudokultur-Industrie oder genauer: Kunst-Industrie. Kultur lässt sich nicht industriell herstellen. Umgekehrt allerdings ist wahr, dass die Pseudokultur-Industrie für eine bestimmte Kultur steht: für den freien Markt der Kulturverramschung als Kunst.

3.

Die Inkongruenz. – Jede kulturelle Äusserung in Produktform ist Kunst. Kunst ist produkthaft vergegenständlichter, kultureller Prozess. Kunst ist Kultur, wie ein ausgestopftes Tier ein Tier ist. Nur wo Kultur war, wird Kunst möglich. Aber bevor Kunst beginnt, geht Kultur zu Ende. Kultur ist die Voraussetzung für Kunst; Kunst dagegen erzwingt die Beendetheit und insofern die Abwesenheit von Kultur. Die einzige Kultur an der Kunst ist – weil prozesshaft – der sie umgebende Jahrmarkt des Kunstbetriebs, der auch zur Herstellung von Distinktionsranglisten dient.

4.

Der Rahmen. – Kunst kann kulturelle Prozesshaftigkeit nur simulieren. Wo sie es tut – bei Theater- oder Musikdarbietungen zum Beispiel –, tut sie es in einem Rahmen, der selbst Produkt ist. Darum ist jede irgendwie «eingerahmte» Kultur Kunst. Meine Forderung nach «verweigerung von falschen rahmen» («Konvolut», S. 236) ist so gesehen ein künstlerisches Postulat, kein allgemein kulturelles.

5.

Werke sind Produkte sind Waren. – Die Vergegenständlichung zu Produkten macht Kunstwerke immer schon zu Waren. Wollen sie öffentlich, d.h. für ein disperses Publikum rezipierbar werden, müssen sich Kunstwerke mit der Postulierung ihres Tauschwertes am Markt zuerst als Waren zu erkennen geben und durch den Verkauf als Waren bewähren. Eher ist die Tube Zahnpasta im Supermarkt ein Kunstwerk, als eine  Kunstwerkware Kultur sein kann.

6.

Das symbolische Kapital. – Der Tauschwert des Kunstwerks bemisst sich grundsätzlich nach dem «symbolischen Kapital» (Pierre Bourdieu), das der Künstler oder die Künstlerin auf dem eigenen Namen vereinigt. Symbolisches Kapital entspricht der öffentlichen Bekanntheit und Bewertung des Namens, also dem Prestige des Künstlers oder der Künstlerin. Im Bereich des Kunstbetriebs wird dieses Kapital in erster Linie massenmedial hergestellt.[1]

7.

Die Grenze. – Kunst findet innerhalb des Marktes statt, Kultur ausserhalb. Die Grenzen des Marktes sind die Grenzen zwischen Kunst und Kultur. Während aber Kunst potentiell jeden kulturellen Prozess zu verfestigen und damit abzubrechen bestrebt ist, entstehen kulturelle Prozesse vor allem in Räumen, die nicht von der «ungeheuren Warensammlung» des Marktes zugestellt sind.

8.

Der Nicht-Wert. – Wie jedes künstlerische Produkt einen Wert repräsentiert, repräsentiert jeder kulturelle Prozess einen Nicht-Wert. Innerhalb der Grenzen des Marktes erscheint dieser Nicht-Wert als Defizit, das aber nicht Nichts ist. Kultur ist jene Instanz, die gegenüber dem Markt die Kategorie des Nicht-Werts verteidigt. Der Nicht-Wert – das Wertfreie, nicht das Wertlose! – ist hier und heute jener nichteinholbare Punkt, von dem aus sich die Totalität der herrschenden Verhältnisse relativieren lässt. Nicht-Wert ist, klassenkämpferisch gewendet, «der Raum für die Selbstbestimmung der Klasse und ihre Reproduktion in sozialer und ökonomischer Hinsicht, der nicht kapitalistisch kontrolliert ist und von wo aus sich Widerstand gegen das Kapital organisieren kann.»[2]

9.

Die ausgelagerten Kosten. – Ökonomisch betrachtet trägt Kultur die externalisierten Kosten der Kunst: Wie die Marktlogik grundsätzlich die sozialen und ökologischen Reproduktionskosten zu negieren versucht, so negiert Kunst grundsätzlich die Kosten der kulturellen Prozesse, durch die sie erst ermöglicht wird.

10.

Künstler, nicht Kultürlerinnen. – Das Kunstwerk erscheint deshalb grundsätzlich als Arbeit von mehr oder weniger professionellen Einzelnen, während Kultur getragen wird von dilettierenden Gruppen von Anonymen. Darum kennt man gewöhnlich zwar die Namen von Künstlerinnen und Künstlern, nicht aber jene von Kultürlern und Kultürlerinnen. Erstere besitzen das symbolische Kapital, das letztere durch die Treue zu ihrer kulturellen Sache ermöglichen.

11.

Der Narzissmus. – Weil Kunstwerke durch die zunehmende soziale Atomisierung der Gesellschaft immer weniger Repräsentation überindividueller gesellschaftlicher Realität sein können, verweisen sie immer ausschliesslicher auf Person und Weltsicht ihrer HerstellerInnen und werden so zur Exhibition individueller Narzissmen. Kunst läuft damit immer mehr Gefahr, zu einem Markt öffentlich inszenierter, dilettierender Selbst-Psychoanalysen zu werden.

12.

Die Kunstförderung. – Bemerkenswert ist, warum gewöhnlich von «Kulturförderung» die Rede ist, wenn Kunst gefördert wird. Bei der Kunstförderung handelt es sich um die Wirtschaftsförderung für eine Branche, die nie selbsttragend zu produzieren vermag – heute auch weil durch die Veränderung der Bedeutung von Kunst (vor dem Narzissmus sind alle Menschen KünstlerInnen) und durch die Revolutionierung der Produktions- und Distributionskanäle sich die Schere zwischen Angebot und Nachfrage noch immer weiter öffnet: Der grösste Teil der Kunstproduktion ist aus Sicht des Marktes von vornherein Müll.[3] Kunstförderung nennt sich Kulturförderung, weil sie weiss, dass sie vor allem anderen Ausschuss und Ladenhüter finanziert, deren Produktionsprozesse – wie sie hoffen muss – einen kulturellen Mehrwert hätten, wenn sie als Anregung wahrgenommen würden, selber kulturell tätig zu werden.

13.

Das Feuilleton ist kein «Kultur»-Teil. – Der «Kultur»-Teil in den Zeitungen meint grundsätzlich «Kunst»-Teil. Das Feuilleton ist inhaltliche Public Relations einer Produktepalette für bildungsbürgerliche Ansprüche. Sein Auftrag ist es, einem möglichst breiten Publikum den aktuellen Output der Kunst-Industrie vorzustellen. Die feuilletonistische Berichterstattung zeichnet sich durch Werkimmanenz respektive Warenkongruenz aus – für eine Kultur-Berichterstattung wären umgekehrt Werktranszendenz und Wareninkongruenz die Voraussetzung. Der Zweck des Feuilletons ist die Warenanpreisung – Zweck der Kultur-Berichterstattung wäre Welterkenntnis dank der Auseinandersetzung mit kulturellen Prozessen.

14.

Kurzum. – Kunst ist auf Kultur angewiesen, um existieren zu können – Kultur auf Kunst nicht.

[1] Unterdessen bin ich der Meinung, dass das Kunstwerk wie jede andere Ware einen Tauschwert und eine Gebrauchswert hat, wobei sich der Gebrauchswert als «symbolischer und identitätsstiftender Wert» der künstlerischen Hervorbringungen bestimmen lässt (vgl.: Von der Zahnpasta, in: WOZ, Nr. 45/2005)

[2] Ahlrich Meyer, «Autonomie», Nr. 14/1985, S. 22.

[3] Nicht vorstellen konnte ich mir 1995 beim Formulieren dieser These, dass ich zwanzig Jahre später über eine Kunstaktion zu berichten hätte, die Kunstwerke zu Kompost verarbeitet und die gewonnene Komposterde wieder öffentlich ausbringt.

(24./25.12., 30.12.1995; 11.11.2005; 17.+19.11.2017; 03.07.2018)

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