Zwei Versuche über Nizon

1.

Der Literat Paul Nizon scheint sich, das ist eine schon angestaubte Beobachtung, der Verewigung des adoleszenten Weltschmerzes verschrieben zu haben – so auch in seinem neusten Buch. Trotzdem gelingt ihm eine bemerkenswerte Passage, die den prekären Sprachzugang und damit die brüchige Welterkenntnis des egomanischen Subjekts «mit dem hybriden Selbstverständnis des einsamen Postens» illustriert, als das sich Nizon seit vielen Jahren in seinem selbstgewählten Pariser Exil inszeniert: «Nach Wörtern schnappen, Wörter für Eindrücke Sinnesmeldungen ausgelöste Gefühle Gedanken. Und die Wörter picken Einzelheiten aus dem Gebräu der Fremde und zimmern ein flüchtiges Zuhause. Und in der von Wörtern erfundenen Räumlichkeit lasse ich mich kurz nieder. Das Tasten Staunen Benennen, dieser Versuch eines Buchstabierens von Wirklichkeit, ist ja letztlich gewiss aussichtslos, es ist ein trostloses Erhellen etwa so, als wollte man in einem universumsweiten Kellerraum einen Kerzenstummel anzünden; und so weit der Kerzenstummelschein reicht, entstünde ‘Welt’.»[1] Egomann als Kerzenträger, der sagen können möchte: Es werde Licht.

(15.05.1989, 5.07.1997; 09.11.2017; 30.06.2018)

2.

Während meiner Stellvertretung im Kultur-Ressort der WoZ von Mitte Oktober bis Ende 1998 las ich Paul Nizons neues Buch «Hund. Beichte am Mittag», das im Büro im Stoss der Neuerscheinungen lag; dazu sein vorletztes Buch, «Die Innenseite des Mantels» – ein «Journal», das die achtziger Jahre umfasst. Und ich besuchte am 17. November in der Buchhandlung Stauffacher in Bern eine Lesung von Nizon. Sie sollte zum Aufhänger werden für einen Artikel über das neue Buch des Autors. Ich begann den Artikel zu schreiben und versah ihn im Sinn eines Baugerüsts mit Überschriften von Kurzkapiteln – ein Vorgehen, das ich in letzter Zeit für journalistische Arbeiten häufig anwende. So weit bin ich gekommen:

«• Lesung I / Paul Nizons Auftritt als Schriftsteller ist weltmännisch und professionell. Frisch frisiert sitzt er am Lesepult und hört gelangweilt auf die schönen Worte, die der veranstaltende Buchhändler tapsig sucht (Nizon als Berner wieder einmal in Bern, und ein lokaler Feuilletonredaktor habe zu Recht über Nizons neues Buch eine «wunderbare Kritik» verfasst). In den dünnen Applaus aus dem zahlreich erschienen Publikum murmelt der Autor ins Mikrofon, es handle sich da um ein «verschlungenes Buch», insofern sei es einigermassen schwierig auszuwählen. Dann beginnt er zu lesen: sonore Stimme, diskret helvetische Artikulation mit deutschen Einsprengseln: Da liest ein Schweizer, der von weit her kommt.

• Hund: inhaltlich. Das neue Buch heisst ‘Hund. Beichte am Mittag’, ein ausgezeichnetes Stück Prosa, 150 Seiten aus einem Guss. Ein Ich-Erzähler redet, eine Mischung von Flaneur und Clochard, der in den Strassen von Paris herumsteht und -geht. Dazu denkt er, leitmotivisch, immer wieder an seinen Hund, der ihm als einziges aus seinem früheren Leben geblieben ist. Das Credo der beiden: ‘Wir liefern weder Fleisch noch Milch. Wir lassen uns vor keinen Karren spannen. Wir tragen keine Lasten und schon gar nicht das Gewicht der Welt. Wir umrunden kapriolenschlagend die Pflichtbewussten. Wir schnüffeln und träumen.’ (S.131) Folgerichtig kommt dem Erzähler auch der Hund abhanden: Er lässt ihn irgendwo warten und holt ihn nicht mehr ab. In seinem Lebenswandel zu stören beginnt ihn allmählich der Schriftsteller, dem er immer wieder begegnet und mit Hut, Mähne und Zigarettenspitze nicht nur Züge des Verfassers Nizon trägt, sondern auch ‘die gleiche Statur’ wie der Ich-Erzähler hat. Zwei alter egos also, die antithetisch zwei Möglichkeiten der Lebensführung des Autors verkörpern: streunender Plauderer und formulierender Schriftsteller. Welcher der beiden am Schluss fragt: ‘Bin ich aus Überheblichkeit Vagant geworden?‘ (S. 147) wird nicht ganz klar.

• Nizons Themenlabyrinth abstrakt: Nichts Neues also von Nizon? Oder: Immer dasselbe? / ‘weder Fabel noch Faden noch Personenfund noch Engagement’ – wie Nizon einmal geschrieben hat.[2]

• Nizons Themenlabyrinth konkret: Was bringt der ‘Hund’ Neues?

• Lesung II: ‘Zu sagen habe ich nichts’ (‘Mantel’, S. 280)»

An dieser Stelle habe ich den Versuch abgebrochen (unterdessen sind mir die Inhalte, die ich in den entsprechenden Abschnitten hätte unterbringen wollen, abhanden gekommen): Auf der WoZ stapelten sich Anfang Dezember Rezensionen im Umfang von mindestens einem halben Dutzend Zeitungsseiten, unter anderem eine Besprechung von mir selber über Franz Hohlers neues Buch «Die Steinflut». Im Gegensatz zur Hohlerrezension, die zumindest von einem Kulturredaktor gewünscht war, löste der Name Nizon bei der für Literarisches im Speziellen Zuständigen nur ein Naserümpfen aus. In dieser Situation ersparte ich mir die Arbeit.

Was ich gewollt hätte: Nachweisen, dass Nizons literarische Bemühungen seit den achtziger Jahren unverändert um wenige zentrale Begriffe kreisen, die er selber als «tragende Motive» mit «Freiheit/Einsamkeit», «Stadt», «Sexus/Liebe» und «Schreiben» gefasst hat.[3] Ausgehend von diesen Zentralbegriffen, so vermute ich, liesse sich ein Netz von Sekundärbegriffen legen, die im Ganzen das literarische Universum von Nizon erschöpfend darstellen würden. Daraus ergäbe sich Nizons Tragik: Jener, der derart spektakulär gegen die Enge gepoltert hat, ist unterdessen rettungslos in seiner inneren Engnis gefangen; jener, der sich selber exiliert hat, weil er das kleine Land nicht aushielt, ist sitzengeblieben in einer Art Sprache gewordenen versteinerten Adoleszenz (und ist insofern nie über das Länggassquartier in Bern hinausgekommen) etc.

Abgeschlossen hätte ich den Artikel mit dem Ende der Lesung in der Buchhandlung, die darin bestanden hat, dass Nizon nach genau dreiviertel Stunden und dem letzten vorgelesenen Satz demonstrativ schwieg und der Buchhändler während des Applauses durch die Reihen zum Lesetisch hastete, dankte und darauf hinwies, dass der Autor nun in einem Nebenraum seine Bücher signieren würde. Nizon hat an diesem Abend in der Tat kein Wort über sich und seine Arbeit als Schriftsteller verloren. Insofern ist er sich treu geblieben: «Zu sagen habe ich nichts, zu laufen habe ich immerzu», hat er 1988 notiert[4] und hat damit bereits präzis die Position jenes Ich-Erzählers formuliert, den er, jetzt, zehn Jahre später, im «Hund» auftreten lässt.

[1] Paul Nizon: Im Bauch des Wals. Caprichos. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, S. 24f.

[2] Zitat nicht nachgewiesen.

[3] Paul Nizon: Die Innenseite des Mantels. Journal. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1995, S. 91f.

[4] Paul Nizon: Mantel, a.a.O., S. 280.

(Ende November 1998; 03.01.1999; 30.06.2018)

 

Nachtrag

In alten Notizen finde ich ein Zitat des Bund-Feuilletonredaktors Charles Cornu über die fünfbändige Kurt-Marti-Werkausgabe (Nagel & Kimche, 1996), das ich unter den Titel «Ein Ansatz zur Nizon-Kritik» gestellt und abgeschrieben habe: «Zugleich tritt einem in diesen [Kurt Martis, fl.] Geschichten auch die ‘Welthaltigkeit der Provinz’ (Elsbeth Pulver) in ganz erstaunlichem Reichtum entgegen. Was ein anderer bedeutender zeitgenössischer Schriftsteller bernischer Herkunft fast verzweiflungsvoll in den Grosstädten sucht, Paul Nizon, das ergreift und begreift Marti in der kleinen Welt der Nähe: Leben – Leben in allen möglichen Formen und Erscheinungen…» (Bund, 28.09.1996)

Im Rückblick schliesse ich nicht aus, dass dieses Zitat am Anfang der Idee stand, Nizon in ein fiktives Gespräch über die Enge seiner Herkunft zu verwickeln (siehe: Muellers Weg ins Paradies. Zürich [Rotpunktverlag] 2001, S. 699-701).

(29.04.2006)

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