Diggelmanns Kampf

Der Literaturwissenschaftler Reto Sorg erzählt: In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre habe die umtriebige alternative Buchhandlung «Krug» in Schaffhausen Walter Matthias Diggelmann zu einer Lesung eingeladen. Danach habe er als Gymnasiast die Ehre gehabt, in der Beiz mit dem Autor am gleichen Tisch zu sitzen. Zunehmend weinselig habe man palavert, bis Diggelmann zum Aufbruch gemahnt habe, weil er zusammen mit seiner Begleiterin, der Publizistin Klara Obermüller, den letzten Zug Richtung Zürich habe erreichen wollen.

Selbstverständlich habe man die beiden noch zum Bahnhof begleitet und dort zunehmend gestaunt, weil Diggelmann, statt einzusteigen, dem bereitstehenden Zug immer weiter entlang gegangen sei. Als das Paar schliesslich einstieg, habe man mit Befremden wahrgenommen, dass man vor einem Erstklasswagen stand: Ausgerechnet Diggelmann! Als er sich drinnen in einem Coupé gesetzt hatte, klopfte man ans Fenster. Und als er es herunterzog – damals konnte man Zugfenster noch öffnen – und der Zug sich bereits in Bewegung setzte, fragte man ihn streng, warum er als Linker denn 1. Klasse fahre.

Neben dem Zug hergehend habe man in Diggelmanns für einen Augenblick perplexes Gesicht geschaut. Darauf habe er die Faust in die Höhe gestreckt und, während der Zug beschleunigte und die Schaffhauser Jugendlichen immer weiter zurückblieben, in die Nacht hinausgebrüllt: «Ich kämpfe dafür, dass die ganze Schweiz erste Klasse fahren kann!»

(14.07.1999; 09.11.2017; 29.06.2018)

 

Nachtrag

Ich kann über diese Episode auch heute schmunzeln. Allerdings könnte man aus ihr eine Kritik an der Integrität dieses Schriftstellers als Linkem herauslesen. Das ist nicht die Absicht des Werkstücks. Im Gegenteil: In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – bis 1978, ein Jahr vor seinem Tod – sass Diggelmann für die neulinken Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) im Gemeinderat, dem stadtzürcher Parlament. Andere linke Schriftsteller seiner Generation traten der SPS bei – wenn sie sich denn überhaupt parteipolitisch banden.

Es stimmt zwar: Diggelmann hat, um den Nachdruck seines Romans «Die Hinterlassenschaft» (1965) in der DDR nicht zu gefährden, gutmütig, aber ideologisch naiv den Hinweis zu den Ursachen des Ungarnaufstands von 1956 im Sinn der ostdeutschen Geschichtsschreibung umgedeutet. Aber es stimmt auch, dass Diggelmann einer der mutigsten und unbeugsamsten Publizisten war gegen die antikommunistische Hysterie in der deutschschweizerischen Öffentlichkeit jener Zeit (im Buch «Muellers Weg ins Paradies» bin ich deshalb fast zwanzig Mal auf ihn zu sprechen gekommen). Als ich 2006, zum Abschluss der sechsbändigen Diggelmann-Werkausgabe in der Edition 8, einen Bericht zu schreiben hatte, hat mir die im Werkstück erwähnte Klara Obermüller in ihrer Zürcher Wohnung einen halben Nachmittag lang Auskunft gegeben über ihren 1979 verstorbenen Lebenspartner, dem sie mit dieser Werkausgabe einen «letzten Liebesdienst» erwiesen hat.  

Dies alles vorausgesetzt, schmunzle ich, wenn ich dieses Werkstück lese.

(09.11.2017; 29.06.2018)

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