Vaterlandslose Gesellen

Noch vor wenigen Jahrzehnten lief jeder Idealist (Idealistinnen begannen erst gerade öffentlich mitzureden), der naiv genug war, ehrlich ein gesellschaftskritisches Argument zu wagen, Gefahr, als «Kryptokommunist» und als «vaterlandsloser Geselle» beschimpft, eingeschüchtert oder gar bedroht zu werden. Mit der ultimativen Aufforderung «Geh doch nach Moskau, wenn’s dir nicht passt!» galt er als argumentativ erledigt.

Als ich 1990 mithalf, den Kulturboykott gegen die 700-Jahr-Feier der Schweiz zu organisieren, hatte sich die ideologische Grosswetterlage geändert: «Moskau» gab es nicht mehr, das antikommunistische Vokabular war sehr rasch aus der Mode geraten und die paar bösen Titulierungen, die es damals gegen mich absetzte, beschäftigten mich weniger als der Vorwurf von kritischer Seite, dass mich meine Bemühungen um den Boykott des Fichenstaats, der ja die Idee eines möglichen anderen, besseren Staates voraussetze, zu nichts weniger als einem Patrioten machten, wenn auch zu einem kritischen.

Als einer der wenigen ist damals der Schriftsteller Manfred Züfle offensiv zum Etikett des «kritischen Patriotismus» gestanden. Dass an diesem Etikett auch in meinem Fall etwas Wahres ist, habe ich erst nach und nach akzeptiert, und es wird seither Jahr für Jahr deutlicher, dass das Argument stimmt. Nur jene Leute, die in der Weltgegend, in der sie leben, im weitesten Sinn sozial engagiert sind, kritisieren diesen Raum, weil sie ihn als Lebensraum verteidigen wollen.

Immer klarer entpuppen sich dagegen heute die Patrioten – auch die «unheimlichen» – von damals als die wirklich vaterlandslosen Gesellen. Das sind die Leute, die damals mit der einen Hand die Wirtschaft, mit der anderen die Armee führten und daneben jederzeit beidhändig mit dem eisernen Besen ihrer antikommunistischen Ideologie herumfuchtelten. Unterdessen reden diese Leute von der notwendigen Deregulierung, die auch den Sozialabbau meint und sich immer deutlicher auf eine erpresserische Forderung reduzieren lässt: Entweder unterstützt mich der Staat darin, die Konkurrenzfähigkeit meiner Firma durch Steuerreduktion und Sozialabbau zu erhöhen und dadurch meinen Profit zu steigern oder ich nehme sie unter den Arm und gehe damit in ein Billiglohnland, wo die Leute noch so gern fürs halbe Geld das Gleiche produzieren.

Das Vaterland der Fabrikherren ist – das zeigt sich mit dem Fall des eisernen Vorhangs mit grösserer Deutlichkeit – stets dort, wo die Menschen am billigsten auszubeuten sind. Ihnen wird ein Land nicht wegen eines bestimmten nationalen Rahmens teuer, sondern wegen dem gebotenen Mass an staatlich garantierter Ungerechtigkeit.

(26.12.1995; 07.09.2005; 31.10.2017; 27.06.2018)

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