Vom demokratischen Sozialismus

Mehr Freiheit heisst weniger Gerechtigkeit, mehr Gerechtigkeit heisst weniger Freiheit. Zu wählen ist deshalb zwischen einer relativ freien Gesellschaft, deren Freiheit fortwährend dazu gebraucht werden muss, deren relative Ungerechtigkeit von unter her zu bekämpfen – und einer relativ gerechten Gesellschaft, deren relative Gerechtigkeit nicht kritisiert werden kann, weil die dazu nötige Freiheit fehlt und deshalb von Ungerechtigkeit nicht zu unterscheiden ist.

Dass mit der Durchsetzung von (ökonomischer) Gerechtigkeit gleichzeitig Befreiung und Freiheit des Einzelnen durchsetzbar sei, ist vermutlich nichts als ein idealistischer Denkfehler, dem sich der zweite anschliesst, der jede linke Praxis nicht nur hierzulande belastet: der illusionäre Charakter einer Opposition, die eines Tages in gerechte Exekutivgewalt umschlagen werde.

Opposition kann nur glaubwürdig sein, wenn sie nicht von vornherein davon ausgeht, dass die sieben mageren Jahre der kritischen Praxis dereinst durch sieben fette Jahre der pfründengesicherten Herrschaftsbeteilung vergoldet werden. (Kritik hat keine Hoffnung, wie gesagt.)

(28.04.1989; 31.10.2017; 27.06.2018)

 

Nachtrag 1

Natürlich kann man sich Freiheit und Gerechtigkeit nicht-antagonistisch denken und sagen: Statt in einer unfreien und ungerechten Gesellschaft lebe ich lieber in einer freien und gerechten. Diese Position ist vermutlich mittelständischer Schöngeistigkeit vorbehalten und ist deshalb nicht zufällig von der dissidenten Schriftstellerorganisation «Gruppe Olten» zum politischen Programm erhoben worden. Am 7. September 1974 hat sie den revidierten Zweckartikel verabschiedet, der mit dem edel gedachten Satz endet: «Ihr [der Gruppe Olten, fl.] Ziel ist eine demokratische sozialistische Gesellschaft».[1]

[1] Hans Mühlethaler: Die Gruppe Olten. Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg (Sauerländer), 1989, S. 75 + 233ff.

[27.6.1997]

 

Nachtrag 2

Dieser Zweckartikel versank vor der Jahrhundertwende und kurz vor der «Gruppe Olten» selbst im Orkus der Geschichte. Wenn das 20. Jahrhundert in Europa etwas gelehrt hat, dann dies: Gesellschaften sind entweder «demokratisch» oder «sozialistisch», entweder relativ frei oder relativ gerecht. Selber schuld ist im ersten Fall, wer arm ist; im zweiten, wer frei sein möchte. Wer arm ist und frei sein möchte, wird auch im 21. Jahrhundert vergeblich nach einem «dritten Weg» im Diesseits suchen – und darum in einem Jenseits erhoffen.

(31.12.2008; 27.06.2018)

 

Nachtrag 3

Im Winter 2002/2003 hatte ich für das Buch «Abschied von der Spaltung» eine Chronik der «Gruppe Olten»-Geschichte zu schreiben. Bei der Recherche daran versuchte ich herauszufinden, wer den Satz, das Ziel sei «eine demokratische sozialistische Gesellschaft», in den Zweckartikel gebracht hatte. Aufgrund verschiedener mündlicher Angaben, so mein Rechercheergebnis, kam er aus dem Umfeld von Leuten wie Adolf Muschg, Hansjörg Schneider, Jörg Steiner, Peter Bichsel, Otto F. Walter und Max Frisch.[1]

Nach der Veröffentlichung des Buches erhielt ich am 25. April 2003 einen Brief von Hansjörg Schneider, in dem er mir unter anderem schrieb: An einer Sitzung in Bern, an der neben dem Sekretär der Gruppe Olten, Hans Mühlethaler, Otto F. Walter, Anne Cunéo, ein weiterer Autor aus der Westschweiz und er selber teilgenommen hätten, habe man «zwei schriftliche Vorschläge» diskutiert: «Einer kam von Adolf Muschg, war ziemlich lang und nichts sagend. Der wurde vorgelesen, da ja Muschg nicht da war. Der andere kam von Otto F. Walter. Er hat ihn selber vorgelesen. Er bestand aus ungefähr drei Sätzen. Der letzte dieser Sätze war eine Wucht. Er lautete: ‘Sie (die Gruppe Olten) ist gegen jede Form von Fremdbestimmung.’ Das weiss ich noch wörtlich, das hat mich nämlich fast vom Stuhl gehauen. Ich habe dann gesagt (und auch das weiss ich noch wörtlich), dass so ein Zweckartikel doch klar und verständlich sein müsse. Und da wir noch alle unter dem Eindruck des Pariser Mais von 1968 und des Prager Frühlings standen, der ja nach unserem Verständnis dem Sozialismus ein menschliches, eben demokratisches Gesicht hätte geben sollen, schlug ich den Satz vor: ‘Das politische Ziel der Gruppe Olten ist der demokratische Sozialismus.’ Der Satz ist also von mir.»

[1] Peter A. Schmid/Theres Roth-Hunkeler [Hrsg,]: Abschied von der Spaltung. Zürich (Rotpunktverlag) 2003, S. 58f.

(31.10.2017)

 

Nachtrag 4

Es gibt Momente, in denen man an nichts denkt und plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Heute Abend sitze ich in der Küche vor meiner Gemüsesuppe und hören mir mit knapp einem Ohr die Beiträge des «Echos der Zeit» an. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat heute also den Ausnahmezustand beendet, der seit den Terroranschlägen in Paris vom 13. November 2015 in Kraft gewesen ist. Im Radiobeitrag wird als Experte der deutsche Politikwissenschaftler Matthias Lemke befragt, der sagt, es ändere sich wenig – eigentlich vor allem die Sprachregelung: Statt von Hausdurchsuchungen spreche die Polizei von nun an von «visites». Immerhin sage Macron, insistiert der Radiomoderator, «er stelle die Freiheit der Franzosen wieder her». Darauf antwortet Lemke unter anderem: «Ich denke, demokratische Regierungen nach dem 11. September 2001 stehen immer vor diesem Dilemma, Freiheit und Sicherheit ausbalancieren zu müssen.» (Um diese Formulierung wörtlich zu haben, habe ich später den Beitrag im Internet noch einmal angehört.)

Über der Suppe ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Eben hatte ich das vorliegende Werkstück redigiert und nicht bemerkt, warum die Rede vom demokratischen Sozialismus heute derart antiquiert klingt: Antiquiert ist der Frame, Freiheit antagonistisch gegen Gerechtigkeit zu setzen. So redete man links von der SP bis 1989 und verachtete die Sozis dafür, dass sie Anfang der 1920er Jahre auf den reformistischen Weg umgeschwenkt waren und sich unter anderem angewöhnten, statt «soziale Gerechtigkeit» zu fordern, «soziale Sicherheit» anzumahnen. Was ich dank Lembkes Satz plötzlich begreife: Der 11. September 2001 ist nicht nur deshalb eine Zeitenwende, weil mit den Anschlägen in New York der Krieg gegen den Terror begonnen hat (der weiterhin andauert), sondern auch, weil er neben den Türmen des World Trade Centers auch das Wort «sozial» pulverisiert hat.

Ursprünglich lautete das Postulat der Arbeiterbewegung: Freiheit und (soziale) Gerechtigkeit müssen zusammengehören. Seit dem Parteitag 1920[1] – als die SPS den Beitritt zur Kommunistischen Internationalen abgelehnt hat – lautete das Postulat: Freiheit und (soziale) Sicherheit müssen zusammengehören. Seit dem 11. September 2001 lautet es nun: Freiheit und (militärische) Sicherheit müssen zusammengehören.

Insofern stimmt der erste Satz des zweiten Nachtrags tatsächlich, der Zweckartikel sei «vor der Jahrhundertwende und kurz vor der ‘Gruppe Olten’ selbst im Orkus der Geschichte» versunken: Die Gruppe Olten ging am 12. Oktober 2002 im AdS – dem Verband AutorInnen und Autoren der Schweiz – auf. Dessen Zweckartikel hat das salonsozialistische Pathos der Gruppe Olten heruntertempiert zur abschliessenden Wendung: «Er [der Verband, f.] verpflichtet sich, einen Beitrag zu einer solidarischen Gesellschaft zu leisten.»

[1] SPS [Hrsg.]: Solidarität, Widerspruch, Bewegung. 100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz. Zürich (Limmat Verlag) 1988, S. 47f.

(1.+18.11.2017; 27.06.2018)

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