Das linke Babel

In seiner Zeit als WoZ-Redaktor hat rst zwischen 1981 und 1984 öfter von der «Orientierungslosigkeit der Linken» gesprochen. Diese hat, so denke ich, einerseits zu tun mit dem Niedergang der orthodoxen linken Gesellschaftsanalyse («Klasse», «revolutionäres Subjekt», «Diktatur des Proletariats» etc.); andererseits damit: Niemand wagt mehr, die einfachen, grossen, «dummen» Fragen zu stellen. Alle müssen gescheit und differenziert sein, alle müssen «es» wissen und einen elaborierten Code fehlerfrei reproduzieren können, und alle geben eitel und ungefragt Antworten auf Fragen, die sie sich selber stellen. So wird der linke Gesellschaftsdiskurs zunehmend zum narzisstischen Unterfangen. Das Sich-Gehör-Verschaffen wird immer mehr zum Selbstzweck. Alle reden, weil sie um soziale Akzeptanz kämpfen. Ob jemand zuhört, spielt keine Rolle. Selbstvergewisserung durch «Lautgeben» (Peter Bichsel[1]) statt Kommunikation.

Das ist das linke Babel. Das Tabu dabei: dass im Disput, auch wenn es explizit ausschliesslich um die «richtige» Sicht auf die Welt gehen mag, implizit jederzeit ein sprachlos gemachtes Ich mitredet. Und je mehr es vom ichlos-objektiven Blick stumm gemacht wird, desto hartnäckiger redet es im Subtext implizit und unausgewiesen mit. Deshalb ist es möglich, dass persönliche Beziehungen zwischen Linken zerbrechen, wenn die Einschätzung der aktuellen Bürgerkriegssituation in El Salvador divergiert. Eine andere Meinung zu haben bedeutet immer auch schon Liebesentzug.

Deshalb gibt es nicht nur in Bezug auf die konsistente Gesellschaftsanalyse eine Orientierungslosigkeit der Linken – es gibt sie ebenso sehr in Bezug auf das bis zur Hilflosigkeit entfremdete Verhältnis zum eigenen Ich.

Das Paradox: Obschon «Ich» das Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse bin, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse ohne «Ich» nicht zu verändern. Meine zentrale Frage im letzten Zyklus des «Konvoluts», was in der lyrischen Sprache (noch) das Eigene sein könnte, müsste auch in gesellschaftspolitische Diskussionen eingeführt werden. Wo kein Eigenes bestimmt, erhofft, rekonstruiert oder zumindest behauptet wird, ist die Welt nicht zu verändern. Wenn es dumm ist, sich einerseits als Objekt (gleichsam ausserhalb der Welt) zu setzen und sich andererseits zu wundern, dass man handlungsunfähig geworden ist, dann ist der linke Diskurs, soweit ich ihn überblicke, heute allzu oft und trotz aller Scharfsinnigkeiten dumm.

Übrigens: Das Erstaunliche an der landesweiten Debatte um die Abschaffung der Schweizer Armee, die die Leute der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) in diesem Herbst erreicht haben, sind nicht die neuen linken Argumente, die sie hervorgebracht hätte – es gibt sie nicht: die Linke hatte seit dem 19. Jahrhundert stets einen pazifistischen Flügel –, sondern das ich-stärkere Auftreten ihrer ExponentInnen.

[1] Eine eigenwillige Quellenangabe. Ich bin mir sicher, dass Bichsel den Begriff im Rahmen einer Veranstaltung an den Solothurner Literaturtagen um 1985 mündlich gebraucht hat, um auf Gemeinsamkeiten tierischer und menschlicher Kommunikation hinzuweisen. Ich erinnere mich jedoch nicht mehr an den Kontext der Aussage, also auch nicht mehr daran, ob er das «Lautgeben» in einen Gegensatz zu «Kommunikation» gestellt hat.

(18.11.1989; 31.10.2017; 27.06.2018)

Das Werkstück entstand gegen Ende des Abstimmungskampfes um die Initiative «Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik». Am 25. November 1989 stimmten dann mehr als eine Million Stimmberechtigte für diese Initiative (35,6 Prozent der Stimmenden).

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