Fälliges, Zufälliges, Fallen

1.

Es gibt gefällige Kunst, und es gibt in einem kulturellen Sinn fällige Kunst. Erstere zerfällt nach einem saisonalen Hipe, letztere fällt gewöhnlich durch.

2.

Was landläufig als Kunst gilt, ist Beliebiges, also das Zufällige. Kunst, die eine kulturelle Bedeutung hat, weil sie authentisch für kulturelle Prozesse steht, ist dagegen notwendig, deshalb fällig. Bedeutende Kunstschaffende sind demnach jene Kulturschaffenden, denen schaffend nicht das Zufällige, sondern das Fällige zufällt.

(21.08.1995; 13.07.1996; 07.09.2005; 16.10.2017)

 

Nachtrag 1

Mit dem künstlerisch Fälligen der Kultur meine ich nicht, dass es Kunst gebe, die der nächste Schritt auf ein Ziel hin sei. Kulturell fällige Kunst kennt kein Ziel – im Gegensatz zur handelsüblichen, deren Ziel ihre Verkäuflichkeit auf dem Markt ist. Kulturell fällige Kunst erinnert an Prozesse, die ihr konkretes gesellschaftlichen Hier und Jetzt befragt oder gar in Frage gestellt haben. Solche Kunst entfaltet sich reaktiv: Sie reagiert stets auf Vorgefundenes (auch wenn sie mit Erfundenem arbeitet), indem sie es spiegelt, und stellt ihren Eigensinn dagegen. Diese Kunst ist wie der Igel, der immer schon da ist, wenn die Häsin Geschichtsphilosophie heranspurtend über die nächste zufällige Unebenheit hechtet, die sie für die Ziellinie hält.

Eher denn als Marken am Weg eines illusionären Fortschritts sind kulturell fällige Kunstwerke bewegliche Gewichte, die ihren Sinn aus ihrer Position im grossen Mobile der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen. Die Kraft, die dieses Mobile in dauernder, unberechenbarer Bewegung hält, ist kein objektiver historischer Prozess, sondern wesentlich die Lebendigkeit der Menschen. Sie setzen die kulturellen Prozesse in Gang, die ab und zu für das Mobile ein Stück fälliger Kunst auswerfen. Jedes Kunst-Stück verändert die Kräfteverhältnisse des Ganzen um ein Minimes.

Aus der interessegeleiteten Kanalisierung kultureller Prozesse entsteht Politik.

(26.04.2006; 17.10.2017; 25.06.2018)

 

Nachtrag 2

Nachdem ich dieses Werkstück gestern Abend halbfertig redigiert weggelegt hatte, las ich in der neuen Ausgabe der Zeitschrift «Neue Wege» (Oktober 2017, S. 5ff.) das Gespräch mit der politischen Autorin Bini Adamczak aus Anlass von 100 Jahren Russischer Revolution. Als sie in der ersten Frage auf das «Ereignis» der Revolution angesprochen wird, antwortet sie: «Ich halte es für sinnvoll, weniger von einem Ereignis als von einem Prozess der Revolution zu sprechen.»

Die Russische Revolution sei mehr und anderes gewesen als einige Ereignisse im Herbst 1917 – nämlich ein «revolutionärer Prozess», der bis zur Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands im März 1921 aus einer «Vielzahl von revolutionären Wellen» und «antiautoritäre[n] Revolten» bestanden habe. Diesen revolutionären Prozess charakterisiert sie mit Worten, die viel mit dem zu tun haben, was ich, wenn ich mich richtig verstehe, in diesem Mäander als «kulturellen Prozess» zu fassen versuche: «[Revolution] ist auch ein Erfahrungsraum, in dem sich Beziehungen verändern oder bisher marginale Beziehungen dominanter werden. Und sie wird motiviert von Hoffnungen, Wünschen, Begierden und Träumen von einem besseren, gelingenden Zusammenleben. Ich halte es für wichtig, gerade diese zweite Seite der Revolution zu betonen – ihren konstruierenden, neu verbindenden, rekombinierenden Charakter. Es geht darum, aus den Bestandteilen der alten Welt eine befriedigendere zu schaffen.»

Zwar kam schliesslich «die autoritäre Fraktion der Partei um Lenin und Trotzki» an die Macht, aber lange Zeit sei nicht klar gewesen, «wer sich durchsetzen wird», so Adamczak. Mir scheint, dass so gesehen der am ersten Nachtrag dunkel und unverbunden angehängte Satz seinen Sinn bekommt: «Aus der interessegeleiteten Kanalisierung kultureller Prozesse entsteht Politik.» Politik heisst halt immer auch Klärung der Machtverhältnisse, wenn nötig mit Gewalt.

(17.10.2017)

v11.5