Das wasserlose Meer

In der Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsches Begriff des «höheren Menschen» bezieht WoZ-Kollege Urs Marti Stendhals Begriff des «homme supérieur» mit ein: «Ein Charaktermerkmal des Typus ist die Fähigkeit, sich nicht täuschen zu lassen und hinter den moralischen Ansprüchen einer Gesellschaft die Heuchelei, hinter den politischen Diskursen die Machtspiele und die ökonomischen Motive zu erkennen.»[1]

Dieser sehr nachvollziehbaren Skepsis gegenüber der inhaltlichen Ebene des politischen Diskurses begegne ich auch bei der Lektüre von Michel Foucault oder François Lyotard. Im deutschsprachigen Raum jedoch scheint mir der «Diskurs»-Begriff logozentrischer, sprachimmanenter, wörtergläubiger gefasst. «Diskurs» im deutschen Sprachraum verabsolutiert das Sprachmaterial – es geht um das bessere Argument – und macht die Wörter zur Glaubenssache: Hier geht es nicht um «Machtspiele», sondern um «Wahrheit».

Ich verstehe nicht, wie der «herrschaftsfreie Diskurs», in dem sich durch selbstlose Anerkennung überlegener Formulierungen prozedural Vernunft herstelle, ein philosophisch haltbarer Terminus sein kann: Sicher ist er ein begrifflicher Widersinn. Ebenso gut wie einen «herrschaftsfreien Diskurs» könnte man ein wasserloses Meer postulieren. So sicher, wie wer schwimmt, nass wird dabei, so sicher kann Macht und Argument im öffentlichen Diskurs nicht getrennt werden. Aber auch: So sicher der nasse Körper nicht nur Nässe ist, so sicher ist das Argument nicht nur sein Machtanspruch.

Trotzdem sind öffentlich vorgetragene Argumente nicht verstehbar (glaubbar wohl), ohne die Antwort auf die in jedem Moment zu stellende Frage nach den Interessenlagen jener, die sie vortragen. Der deutschsprachige sprachimmanente «Diskurs»-Begriff verteidigt jedoch den Geltungsanspruch des besseren Arguments jenseits der Interessenlagen – in meinem Bild das Schwimmen im wasserlosen Meer.

Der Diskurs als Katalysator für die Praxis der liebsten Fetische «Vernunft» und «Aufklärung»: Mag sein, mit diesem «Diskurs»-Verständnis hängt die grössere Totalitarismusanfälligkeit des deutschen Sprachraums zusammen. Wer im öffentlichen Diskurs treuherzig Antworten auf die Frage sucht: Was wird gesagt?, ist schon ausgetrickst und in das Feld des Glaubenmüssens abgeschoben.

Die Frage, die der Täuschung bestenfalls widersteht, lautet: Was wird gewollt mit dem, was gesagt wird?

[1] Urs Marti: Der Plebejer in der Revolte – ein Beitrag zur Genealogie des «höheren Menschen», in: Nietzsche-Studien, Berlin/New York (Walter de Gruyter), Nr. 18/1989, S. 560.

(21.01.1989, 07.07.1997; 09.10.2017+17.06.2018)

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