Vernunft der Tat und Vernunft des Wortes

Die Vernunft «von oben» ist die Vernunft der Tat; die Vernunft «von unten» jene des Wortes.

Die Vernunft der Tat bedient sich des Wortes nur, um die Tat zu legitimieren, sieht sie sich dazu genötigt. Jedoch: Sie ist die Tat, das Wort ist ihr äusserlich.

Die Vernunft des Wortes ist ausgeschlossen von der Tat und erreicht sie nur in äusserster Radikalisierung tangential. Im ersten Manifest nach ihrem Abtauchen in die Illegalität hat die «Revolutionäre Armee Fraktion» (RAF) geschrieben: «Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist praktisch zu ermitteln.»[1] An diesem Punkt kippt die von der RAF vertretene Vernunft des Wortes um in reine Performativität (nicht aber in die Vernunft der Tat). Vernunft des Wortes bleibt Wort, die Tat – auch das Menschenopfer – bleibt ihr äusserlich.

Nie würde die Vernunft der Tat die eigene Existenz an das vorgebrachte Argument hängen, wie es die RAF getan hat. Wie die Vernunft der Tat handelnd stumm bleibt, redet die Vernunft des Wortes ohne ein anderes als das Reden zum praktischen Ziel zu setzen. Nie würde die Vernunft des Wortes die eigene Existenz an die Ausführung einer Tat hängen. (Wer in der Logik der RAF-Vernunft dachte, sah sich nach dem Herbst 1977 nicht durch die gescheiterte Praxis des «bewaffneten Widerstands» widerlegt.)

Warum aber forschen die Intellektuellen von Kant bis Habermas stets nach der Vernunft der Tat, wenn sie nach Vernunft forschen, wo sie doch selbst Phänomene der Vernunft des Wortes sind?

Ich denke mir: Die Intellektuellen sehen sich nicht als Phänomene der Vernunft des Wortes. Immer von neuem erklären sie ja tatsächlich ihre Worte zu ihrer Tat. Dieser Anspruch macht ihre gesellschaftliche Position immer von neuem doppeldeutig. Ihre Rede gebärdet sich im Universum der Sprachspiele als Vernunft der Tat: Niederreissend, korrigierend und neu konstruierend geht sie durch dieses Universum wie Herrschaft über eigenen Grund und Boden. Wer Augen hat zu sehen, jedoch sieht: Intellektuelle Machtvollkommenheit ist von der Herrschaft geliehen. Dies macht Intellektuelle jenen, die an den Wörtern hängen wie die Taglöhner an der Scholle ihres Herrn, bis in den Tod suspekt.

[1] Rote Armee Fraktion: Das Konzept der Stadtguerilla, April 1971, in dies.: Texte und Materialien der RAF, Berlin (ID-Verlag) 1997, S. 27-49, hier S. 40.

(18.7.1989; 09.10.2017; 15.06.2018)

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