«Todesrisiko» und «Restrisiko»

 

1.

«Für tolerabel halten die meisten Wissenschaftler – etwa bei den Auswirkungen von Industrieanlagen oder Chemikalien – ein jährliches individuelles Todesrisiko von eins zu einer Million.»[1] Handeln WissenschafterInnen, die ein solches «Todesrisiko» tolerieren, vernünftig oder nicht?

Die Vernunft «von oben» sagt ja. Sie rechnet Vor- und Nachteile von Industrieanlagen gegeneinander auf und optimiert die gesellschaftlichen Vorteile unter gebührender Berücksichtigung des privatwirtschaftlichen Nutzens. Sie legt die Grenzen der Vernunft so fest, dass die Praktikabilität der in Frage stehenden Struktur nicht tangiert wird. Eher würde die Gefahrengrenze um eine Zehnerpotenz erhöht als die Anlage abgestellt.

Die Vernunft «von unten» sagt nein. Die Forderung von Herrschaftsapparaten und ihren Funktionären nach Menschenopfern war zu allen Zeiten irrational und ist es auch heute. Ob bei den Azteken die ProduzentInnen von metaphysischem Sinn das Recht für sich in Anspruch nahmen, ihren Opfern das Herz aus dem Leib zu schneiden oder ob heutzutage ProduzentInnen von Chemikalien das Recht in Anspruch nehmen, pro Jahr jeden millionsten Menschen vergiften zu dürfen, hat mit Vernunft gleichermassen nichts zu tun. Die legale Produktion von Menschenopfern ist ein irrationaler Aspekt jeder Herrschaftsstruktur.

 

2.

Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl sagt Ulrich Beck mit Blick auf das Atom-, Chemie- und Genzeitalter, dieser GAU habe «das real existierende Verwaltungschaos aufgedeckt, die Legende des ‘Restrisikos’ an der Erfahrung seiner Wirklichkeit zerschellen lassen; und es hat die Unsicherheit des ‘Sicherheitssaates’: die fehlende Vorsorge, aufgedeckt. […] Die ‘Restrisikogesellschaft’ ist eine versicherungslose Gesellschaft, deren Versicherungsschutz paradoxerweise mit der Grösse der Gefahr abnimmt.»[2]

An dieser Erkenntnis arbeitet sich nun die industrielle Propaganda ab, etwa wenn der Chemiekonzern Bayer in einem Inserat unter dem Titel: «Bayer: Kompetenz und Verantwortung» postuliert: «Bei jeder Produktion gibt es ein Restrisiko. Unsere Verantwortung ist, dass es beherrschbar bleibt.»[3]

Das Argument ist ein plumper Taschenspielertrick: Das Restrisiko ist ja per Definition genau jener Teil des Risikos, der unbeherrschbar bleibt. Die grossindustrielle Scharlatanerie besteht offensichtlich darin, dass vorgegeben wird, es sei möglich, die Verantwortung für das Unbeherrschbare zu übernehmen. Diese Behauptung ist gemeingefährlich: Die Folgen dieser «organisierten Unverantwortlichkeit»[4] tragen immer die Opfer der unbeherrschbaren Katastrophe, die hinter dem «Restrisiko» steht.

[1] Ulrich Beck: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988, S. 145.

[2] Ulrich Beck: a.a.O., S. 131f.

[3] Zeit-Magazin, Nr. 50/1989.

[4] Ulrich Beck, a.a.O., S 96.

(20.07./11.12.1989, 04.09./22.09.1997; 06.10.2017)

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