Zum Eigenen an der Sprache: Kontrapunktik und Celan

 

1.

Sprach-Kontrapunktik. – In der musikalischen Kontrapunktlehre ist die «Interventio» («Dux»/«Führer») jenes musikalische Material, das als Thema vorgegeben wird. Mit «Elaboratio» («Comes»/«Begleiter») wird jenes Material bezeichnet, das unter oder über der «Inventio» erscheint und sich nach den Regeln der kontrapunktischen Kunst am werkimmanent Vorgegebenen abarbeitet.

Die Kontrapunktlehre ist im musikalischen Bereich die Lehre von der Hierarchisierung des Arbeitsmaterials in klar unterscheidbare Bereiche: Es gibt einerseits gesetztes und andererseits davon abhängiges Material. Auf dieser Ebene der Abstraktion zeigt sich das Problem der von mir so genannten «poetischen Konstellationen» als eines von Sprach-Kontrapunktik. Die Unterscheidung von «Inventio» und «Elaboratio» entspricht meiner von Primär- und Sekundärsprache.

Während jedoch in der Kontrapunktlehre das Gesetzte ein «Eigenes» oder ein «Fremdes» (eine eben erfundene Phrase so gut wie ein uraltes Choralmotiv) sein kann, gilt der poetischen Konstellation konsequent das Fremde, das Zitat, das Vorgefundene als das Gesetzte – das «Eigene» jedoch als das davon Abhängige. Denn die poetische Konstellation versucht immer wieder das Gleiche: dem vorgegebenen Fremden ein «Eigenes» einzuschreiben; die Sprache zu zwingen, «Ich» zu bedeuten. (Dies sei kein politisches Projekt? Was soll die Forderung nach Menschenrechten ohne die andere nach einem Subjekt, das selbst-bewusst genug ist, diese Rechte einzufordern?)

2.

Ist das Eigene werkimmanent fassbar? – Anlässlich eines Gurten-Spaziergangs am 26. Dezember 1989 diskutiere ich mit dem «Konvolut»-Grafiker Daniel von Rüti über das Eigene im Kunstwerk. Seine These: Das Eigene ist werkimmanent zu fassen als das Eigenleben, die «Funktionsweise», die «Mechanik» des Kunstwerks. Das Eigene entsteht in dem Masse, in dem das Kunstwerk, abgelöst von der produzierenden Person, «stimmt».

In dieser Perspektive ist das Eigene, das die Person, die das Kunstwerk herstellt, mittransportieren will – also ein in irgendeiner Weise «inhaltliches Eigenes» – nicht wichtig (wiewohl es auch für ihn eine Rolle spielt, aber nicht in einem für das Werk strukturbildenden Sinn). Dieses Eigene ist «de-subjektiviert». Subjektiv wohl, aber abgelöst vom Subjekt, das Subjektivität herzustellen versucht.

In meiner Argumentation ist das Eigene ein Faktor, der von der produzierenden Person ins Produkt transzendiert; es ist das, was von der produzierenden Person über das Produkt in Richtung einer potentiellen Rezeption freigesetzt wird. Während für von Rüti das Eigene ein Gemachtes, ein Konstruiertes ist, ist für mich die Machart nur Methode, mit der ein Eigenes als Nicht-mehr-Hinterfragbares, als Ontologisches freigesetzt werden soll (gelänge diese Freisetzung, so wäre die «lyrische rekonstruktion des subjekts – oder doch: von subjetivität», wie ich im «Konvolut» schreibe, gelungen).

Konkret: Ich reklamiere die Idee der poetischen Konstellation nicht in einer urheberrechtlichen Art als ein Eigenes, sondern ich vertrete die These, durch das, was die poetische Konstellation zu leisten vermag, sei ein ontologisches Eigenes darstellbar, nicht innerhalb der Materialität des Werks, sondern implizit in der Anordnung der Konstellation: Gemeint sind nicht die Begriffe als einzelne Gestirne im Sprach-All, sondern die Kräfte, die diese einzelnen Gestirne durch die Räume des Unsagbaren zusammenhalten. Diese Kräfte – die «Sinnlinien» der Konstellation – und nicht die verwendete Sprache im Einzelnen (die nach Marx «gesellschaftliches Produkt» ist[1]) geben dem Autor des Gedichts bestenfalls eine unverwechselbare Kontur.

3.

Celans Eigenes an der Sprache. – Mit einem linguistischen Argument von Ferdinand de Saussure versuchen Hermann Burger/Paul Celan in ihrer idealistischen Sprachbetrachtung so etwas wie das Eigene in der Sprache zu retten.[2] Sie unterscheiden «la langue» und «la parole». «La langue», die «Sprache schlechthin», ist bei ihnen ein metaphysisches Konstrukt (statt, wie ich es sehe, eine materiale Totalität), bei der «jedes Aussprechen von vornherein ein Verzicht» auf das Umfassende dieser «langue» sei. Dagegen bezeichnet «la parole» den individuellen, mündlichen oder schriftlichen Sprachgebrauch innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Die konkrete, «eigene» «parole» ruht auf dem Fundament der metaphysischen, «fremden» «langue».

Was in dieser Perspektive bei der «Aktualisierung» von Sprache – z. B. bei der lyrischen Arbeit – vor sich geht, ist die Umsetzung von «langue» in «parole», und zwar durch «die Übersetzung der Engramme [i. S. v. Erinnerungsbildern, fl.] aus der ‘langue’ in das Gedicht, das eine Form der ‘parole’ darstellt». Hier verweist Burger auf Celans Büchner-Preis-Rede von 1960[3], in der dieser ebenfalls eine solche Sprachkonzeption zu vertreten scheint und ausführt, bei diesem Übertragungsprozess werde Sprache aktualisiert, «freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation». Da Lyrik ihren Namen nur verdiene, wenn der Autor, der sie produziert, nicht vergesse, dass er «unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit» spreche, sei gerade das Gedicht «gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen».

Burger/Celan vermeiden zwar den Begriff des «Eigenen» in der Sprache, ihre Argumentation jedoch impliziert, dass es so etwas gebe, und zwar in ihrer «Aktualisierung» (Burger), respektive in ihrer lyrischen «Gegenwart und Präsenz» (Celan). Heisst: Dadurch, dass ich jetzt hier etwas sage, wird das Gesagte «irgendwie» zu einem Eigenen (und bleibt es als «Sprachkristall» auch späterhin, «irgendwie»). In diesem «Irgendwie» steckt die Alchimie des idealistischen Ansatzes: «La langue», das Ganze, wird gedacht als etwas metaphysisch Unfassbares, das der Dichter «auf künstlichem Weg zurückzugewinnen» versuchen muss, indem er die «Ganzheit des Engramms, die er innerhalb der ‘parole’ preisgeben muss», lyrisch, «uneigentlich», «in Gleichnissen, Metaphern und Symbolen» wiederherstelle.[4]

Ich stelle dagegen: «La langue» ist die Totalität der gesellschaftlichen Kommunikation und des Herrschaftsinstruments Sprache; die «parole» – der «Idiolekt» nach Rossi-Landi[5] und allenfalls einige eigene Wortschöpfungen – ist eine von dieser weitestgehend kontrollierte Variante der «langue».[6] Der Beruf des Dichters ist es, daran mitzuarbeiten, «la langue» gegen die Herrschaft zu wenden, also «parole» zu emanzipieren, und zwar nicht durch Rekonstruktion von Engrammen, sondern durch Rückeroberungen von Begriffen und ihren Konnotationen.

[1] Genau genommen sagt Marx in der «Deutschen Ideologie», worauf ich mich hier vermutlich bezogen habe: «Das Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt.» (Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Werke Band 3. Berlin (Dietz Verlag) 1983, S. 30f.) Ich setze hier also voraus, dass Sprache und Bewusstsein untrennbar seien, was allerdings plausibel ist.

[2] Hermann Burger: Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache. Frankfurt am Main (Fischer) 1989, S. 92ff.

[3] Paul Celan: Gesammelte Werke, Band 3. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, S. 187-202, hier S. 197ff.

[4] Hermann Burger, a.a.O., S. 94.

[5] Ferruccio Rossi-Landi: Sprache als Arbeit und als Markt. München (Hanser) 1974, S. 64.

[6] Die Aktualisierung von Sprache an sich bringt keine «gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen» (wie Celan hofft); einiges brächte in diesem Sinn höchstens die Neukonnotierung von aktualisierter Begrifflichkeit. Wobei Neukonnotierung zuerst einmal bedeutet: Hermetisierung. Ob ein Begriff sich mit einer neuen Bedeutung durchzusetzen vermag, ist jederzeit eine Machtfrage.

(25.-29.12.1989; 23.09.1997; 21.09.2017)

 

Nachtrag (Randnotizen zur Lektüre von Hermann Burgers Dissertation[1])

• Bei der Analyse von Celans Gedicht «Weggebeizt» nimmt Burger auf die Legende vom babylonischen Turm Bezug. Nach Martin Buber unterscheidet er die «Völkersprache» und die «heilige Sprache», die Gott in der Legende den Völkern damals genommen habe. Diese Begriffe setzt er in Analogie zu Celanschen Chiffren: «Völkersprache» sei «buntes Gerede» oder «Tausendwort»; «heilige Sprache» sei «Schneewort» oder «Atemkristall» – eine Art Ursprache «ohne Ich und ohne Du»[2]. Damit werden die wissenschaftlichen Termini «langue» und «parole» ins Mystische gewendet: In Burgers Interpretation geht Celan von einer «richtigen», «absoluten» und einer «falschen», «relativen» Sprache aus. In dieser Perspektive wäre Celans Scheitern ein Scheitern seiner Bemühung um diese absolute Sprache: «[Celan] verfügt wohl über ‘einige Reden’, über die poetische Spezialistensprache, die von seinesgleichen verstanden wird, doch dieser Schatz zerfällt zum ‘Bettel der Worte’».[3]

• Eine absolute Sprache wäre weder Quelle der Kommunikation noch würde sie ein Ziel der Rezeption benötigen. Sie wäre ausserhalb jeder Sozialität und deshalb ununterscheidbar vom Schweigen. Sie findet erst nach dem statt, was Rossi-Landi als «kommunikativen Tod» bezeichnet hat.[4]

• Burgers/Celans These scheint zu sein, die Aufgabe des Dichtens sei es, der – grundsätzlich eigenen – Sprache mit äusserster Anstrengung bis in die Regionen eines Absoluten habhaft zu werden: der Dichter als Extremkletterer mit Schmetterlingsnetz. Ich sage: Die Aufgabe des Dichters ist es, in einer grundsätzlich fremden, besetzten Sprache so zu reden, dass sie «Ich» zu sagen beginnt und tendenziell widerständig wird: der Dichter als Heimarbeiter der Emanzipation mit Arbeitsmaterial, das ihm nie gehören wird.

• Sprache kann man via gesellschaftliche Macht usurpieren, niemals besitzen.

• Über die Problematik von lyrischer Spracharbeit wird so vereinzelt nachgedacht, dass ich mich schon über die Massen verstanden fühle, wenn ich einem Autor begegne, der in entscheidenden Punkten das Gegenteil meiner Auffassung vertritt. Immerhin: Wer sich an der gleichen Fragestellung abarbeitet, spielt das gleiche Sprachspiel – egal, welche Antworten gegeben werden (was heissen würde: Die Regel eines bestimmten Sprachspiels ist die Fragestellung, unter der es stattfindet).

• Hermetik heisst nicht-verstehbare, ausschliesslich interpretierbare Wortreihung. Hermetische Sprache zwingt in die Labyrinthe der subjektiven Chiffrierung. Ist der Zugang dazu verstellt (fehlende Bildungsprivilegien, fehlende Zeit zum Nachdenken, fehlendes Interesse), so lallt sie als Geräusch.

• Entweder ich fasse Sprache materialistisch: Dann ist das lyrische Projekt das Bemühen um eine «Gegensprache». Oder ich fasse Sprache mystisch: Dann ist es das Bemühen um eine «absolute Sprache». Beiden Sprachen gemeinsam ist die Fundamentalopposition gegen den herrschenden Diskurs respektive die «bunte Sprache». «Gegensprache» bleibt jedoch Kommunikation, «absolute Sprache» wäre in Begriffe gesetztes Verstummtsein.

• Ist Celan an seiner Idee von Sprache gescheitert? Gescheitert daran, dass eine mystische Sprachkonzeption keinen Ort hatte innerhalb von Joseph Goebbels’ deutscher Sprache oder als Reflex darauf? Seine gesuchte Sprache war einerseits ganz und gar unausspechbar (und also undenkbar), andererseits ganz und gar notwendig für ein im mystischen Sinn gültiges Reden nach Auschwitz. Anders: Es war für Celan eine künstlerische und eine moralische Notwendigkeit, die absolute Sprache zu suchen. Es war unmöglich, dass er sie fand: Weil es sie nicht gibt.

• Indem Burger die in seiner Argumentation zweigeteilte Sprachwelt auch in den Dichter hinein verlegt, schlägt er wohl ungewollt (mag sein: auch unverstanden) eine Brücke zur Schizophrenie-Diskussion: «Das Ich verfügt über ‘einige Reden’, über Mein-Sprachen. Das Du würde der fremdere Teil des Dichters, der das Geheimnis des Kristalls besitzt, das es mit Worten einzuholen gilt.»[5]

• Beim jetzigen Stand der Diskussion verfällt auch Adornos Argument dem Mystizismus, wenn er sagt, die «Gefahr der Sprache» bestehe darin, «an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern».[6] Heisst: Nur nicht-kommunikative Sprache ist wahr. Impliziert: Adorno verteidigt eine «absolute Sprache» nach Burgers/Celans Konzeption, also ein mystisches Konstrukt, als Voraussetzung für die Formulierung des «Wahrheitsgehalts».

[1] Hermann Burger: Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache. Frankfurt am Main (Fischer) 1989 [1974]. – Der Vermerk, Burgers Arbeit fertig gelesen zu haben, datiert in meiner Ausgabe vom 29. Dezember 1989.

[2] Paul Celan, a.a.O. S. 170f.

[3] Hermann Burger, a.a.O., S. 109.

[4] Rossi-Landi, a.a.O., S. 101.

[5] Hermann Burger, a.a.O., S. 126f.

[6] Theodor W. Adorno: Parataxis – zur späten Lyrik Hölderlins. Gesammelte Werke 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2015/5, S. 459.

(25.-29.12.1989; 23.09.1997; 21.09.2017; 20.03.2018)

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