In tausend Schalen des Unnötigen

 

1.

Die Auseinandersetzung mit dem Eigenen am und im Sprachmaterial, wie ich sie im «Konvolut» geführt habe, wirkt aus heutiger Sicht [1997, fl.] wie ein magisches Ritual gegen die traumatisierende Erfahrung einer nicht mehr zu übersteigenden Entfremdung. Das Tragische ist ja nicht – wie es mir damals schien –, dass die Sprache als Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung nicht als eigene gedacht und verwendet werden kann; das Tragische ist, dass das Selbst selber nicht mehr als Eigenes zu denken ist.

In der Frage nach dem Eigenen in und an der Sprache spiegelt sich die persönliche Erfahrung der Dezentrierung des Ichs: Ich bin nicht ich. Unumkehrbar. (Insofern habe ich ein Problem meiner Lebenskrise vom Herbst 1984 später in meinem Arbeitsmaterial, der Sprache, wiedergefunden – oder habe ich die Krise ins Sprachmaterial hinenprojiziert?). Geht eine solche Grenzerfahrung mit psychischer Dekompensation und sozialer Auffälligkeit einher, wird sie von den Fachleuten wohl mit einer Diagnose im Umfeld von Depression oder Schizophrenie belegt.

Insofern sie allerdings durch objektivierbare gesellschaftliche Realitäten begünstigt wird, spiegelt die Dezentrierung ihrerseits eine Kultur der tendenziellen Subjektdestruktion. Ich vermute, dass der soziale Wandel durch technologische Innovation, kombiniert mit der Anheizung des sozialdarwinistischen Marktanarchismus, heute so weit getrieben werden kann, dass langfristige Prozesse – wie es Subjektkonstitution und -stabilisierung zweifellos sind – beeinflusst oder gar verhindert werden.

Wenn eine Herrschaft, wie es die marktliberale ist, eine «repressiv tolerante» Gesellschaftskonzeption erfordert, um die Menschen dergestalt unter Kontrolle zu halten, dass sie gleichzeitig überzeugt von sich sagen, sie seien frei, so muss versucht werden, diese Menschen erst gar nicht zum Selbstbewusstsein ihres schwierig zu kontrollierenden Menschseins gelangen zu lassen. Dazu sind sozialtechnologische Massnahmen notwendig, die nach der Maxime funktionieren: Identitätsverhinderung ist einfacher und billiger zu bewerkstelligen als Identitätszerstörung.

Die Beschwörung des Eigenen an und in der Sprache war mein aus dem Selbst in die Sprache gespiegelter Wunsch nach einer Lebensmöglichkeit, in der das Ich wieder identisch mit sich selber würde.

2.

Der Begriff des «Eigenen», scheint mir heute, ist vermutlich nur als poetologischer Terminus sinnvoll. Im Bereich der Poesie hält er sich denn auch hartnäckig. So schrieb eben letzthin Helen Meier in einem Text über Erika Burkart: «Auf Beschränkung wächst das, was das Eigene genannt werden kann. Nur das Eigene deutet auf das andere hin.»[1]

Wenn sich das Eigene aber im Material nicht festmachen lässt, wie ist es dann zu fassen? Das poetologisch Eigene wäre dann die Einzigartigkeit des Zusammentreffens eines Menschen im Universum des Sozialen mit dem aktuellen Universum der Sprache. So gesehen steht das poetologisch Eigene als Potentialität jedem Menschen zur Verfügung. Ob es realisiert werden kann, ist eine Frage der Intensität, mit der sich ein Mensch um die sprachliche Dokumentierung dieses einmaligen Zusammentreffens bemüht. So gäbe es zwar kein absolut Eigenes im sprachlichen Ausdruck, aber doch weniger Eigenes und Eigeneres.

Im Anriss zu einem Interview, das ich mit Kurt Marti unter dem Titel «Realist mit Schreibmaschine»[2] anlässlich der Verleihung des Tucholsky-Preises an ihn geführt habe, schrieb ich letzte Woche in der WoZ, Marti schreibe nicht «das Unnötige brillant», sondern «das Nötige gültig».

Diese Formulierung fasst für mich das Eigene im poetologischen Sinn: Es ist das subjektiv Notwendige, das ausser mir niemand auszudrücken fähig ist, weil ich an meinem gesellschaftlichen Ort und zu meiner historischen Zeit einzig bin. Die Perspektive des Blicks und der sprachliche Ausdruck, der sich daraus ergibt, sind einmalig und notwendig insofern, als sie ein originärer Beitrag sind im Universum der menschlichen Erkenntnis.

Der Antagonismus zwischen dem brillanten Unnötigen und dem gültigen Nötigen sagt aber auch, dass ich davon ausgehe, dass der öffentliche Raum dröhnt von brillant formulierten Unnötigkeiten, die eher dem Narzissmus der Sprechenden als der Notwendigkeit der Spracharbeit geschuldet sind. Insofern hat Helen Meier recht: Vor dem poetologisch Eigenen steht die «Beschränkung», die Bescheidung auf das, was in der raumzeitlichen Position, die ich einnehme, nur mir zu sagen möglich ist.

Die poetische Spracharbeit könnte unter diesem Blickwinkel verstanden werden als das Herausschälen des Nötigen aus den tausend Schalen des Unnötigen, das einem das wachsende spracharbeiterische Handwerk zur Verfügung stellt. Je grösser die handwerkliche Übung, die vieles zu sagen erlaubt, desto notweniger wird der Wille zur Reduktion. Wenn mir alles zu sagen möglich würde, müsste ich endgültig schweigen. Aber erst dann.

[1] Helen Meier: «Die Bezauberung der Sinne», in: WoZ 41/1997.

[2] WoZ 42/1997.

(16./19./24.10.1997; 21.09.2017; 21.06.2018)

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