Autonom oder veröffentlicht

Im «Konvolut» schrieb ich zum Begriff des «Rahmens»: «der rahmen bestimmt massgeblich den sinn/die aussage des kunstprodukts, und zwar unverhältnismässig stärker, als umgekehrt das kunstprodukt fähig ist, den sinn seines rahmens umzudeuten.» Da gibt es Überschneidungen zu Marshall Mc Luhans Satz, das Medium sei die Botschaft.

Unter «Medium» versteht Mc Luhan die Transportstrukturen der Massenkommunikation vom Buchdruck bis zur Elektronik. Unter «Rahmen» verstehe ich alle Strukturen, die zur Vermittlung künstlerischer Produkte notwendig sind, also Räume (Kunsthäuser, Konzertsäle, Museen, Kulturzentren etc.) und journalistische Medien aller Art – wobei ich diese nicht als neutrale Übermittlungsschienen, als wertfreie Technologien sehe, sondern als Kanäle, die das Kunstprodukt normieren und – selber ökonomisch gesteuert – steuern. Wie der einzelne Erdklumpen weniger Bedeutung hat als das ihn transportierende Förderband, ist die Übermittlungsschiene bedeutender als die Botschaft: Nicht der Text, sondern der Text als Buch eines bestimmten Verlags; nicht das Bild, sondern das Bild als Ausstellungsobjekt in einer bestimmten Galerie; nicht die Partitur, sondern das in einem bestimmten Konzerthaus von bestimmten MusikerInnen interpretierte Musikstück bestimmen Wert und Bedeutung des Werks etc.

Wenn ich definiere, dass Mc Luhans «Medien» und die «Rahmen», wie ich sie fasse, gleichermassen «Kanäle» sind, so könnte ich Mc Luhan folgendermassen übersetzen: Der Kanal ist die Bedeutung des darin Transportierten. Diese Position ist vom Kulturtheoretiker Raymond Williams wie folgt kritisiert worden: «Wenn der Effekt der Medien vom Inhalt unabhängig ist, dann ist es gleichgültig, wer die Medien kontrolliert und welche Inhalte sie haben; alle üblichen kulturellen und politischen Argumente könnten vergessen werden, denn die Technologie wäre allein entscheidend.»[1]

Meine Definition lautet deshalb abgeschwächt: Der Kanal determiniert das darin Transportierte. Und auch die Umkehrung gilt: Das Transportierte existiert ausschliesslich als Teil des Kanals. Es hat keinen Sinn, über einen Fernsehfilm zu reden, ohne das Fernsehen zu reflektieren; über einen Text zu reden, ohne den Verlag des Buches zu reflektieren; über die sicher sehr verschiedenen Beiträge zur 700-Jahr-Feier zu reden, ohne das homogene Kanalsystem der 700-Jahr-Feier zu reflektieren etc.

Daraus folgt: Die Diskussion des Transportierten unter Ausschluss des Kanals ist «ideologisches postulat herrschender kunstbetrachtung», so die «Konvolut»-Formulierung, die die Eskamotierung des Rahmens anspricht: Die Ausblendung des Kanals gibt dem Kunstprodukt zwar den idealistischen Schein von Autonomie. Es gibt aber keine autonome Kunst, die veröffentlicht ist. Autonom kann Kunst nur sein, wenn sie den Kanal verweigert. Darum ist Kunst entweder autonom oder veröffentlicht.

[1] Zitiert nach: Michael Kunczik, Massenkommunikation. Köln/Wien (Böhlau Verlag) 1979/2, S. 71.

(24.01.1991, 19.03.1998; 19.09.2017; 21.06.2018)

 

Nachtrag 1

Ich stolpere über das Zitat von Raymond Williams: «Wenn der Effekt der Medien vom Inhalt unabhängig ist, dann ist es gleichgültig, wer die Medien kontrolliert und welche Inhalte sie haben etc.» Daran ist bloss folgendes richtig: Wenn der Effekt der Medien vom Inhalt unabhängig ist, dann ist es gleichgültig, welchen Inhalt sie haben. Nicht gleichgültig ist jedoch, wer die Medien kontrolliert. Von Belang bleiben Besitzverhältnisse und Verfügungsgewalt.

Denn auch wenn «der Effekt der Medien vom Inhalt unabhängig» ist, heisst das nicht, dass Medien keine Effekte hätten. Es ist nicht gleichgültig, wer diese Effekte steuert. Zu fragen wäre, wer mit welcher Absicht für welche Effekte verantwortlich ist. Meine spontane Vermutung: Es sind jene, die an gesellschaftlicher Kontrolle und Überwachung ein Interesse haben.

Medien strukturieren die soziale Welt flächendeckend so, dass die massenhafte Einwegkommunikation unverbundene Konsum-Monaden erzwingt, die – sozial vereinzelt – ihr Bewusstsein auf eine mediale Wirklichkeit fokussieren und so tendenziell in ihrer tatsächlichen immer weniger handlungsfähig sind. Ich bezweifle, dass die Medien der Kunstvermittlung in diesem Punkt andere Effekte hervorrufen als die journalistischen – auch wenn sie teilweise andere beabsichtigen mögen.

Ein Argument gegen diese kulturpessimistische Sicht würde lauten, die Medien von heute würden über die Interaktivität immer mehr zu Zwei- resp. Vielwegmedien. Tatsächlich sind heute – quantitativ betrachtet fast ausschliesslich – die materiell und bildungsmässig privilegierten Schichten aller hochindustrialisierten Länder per Internet kommunikativ miteinander verbunden. Trotzdem scheint mir wahr, dass die Helden der Cyberrealitäten denn doch spurlose Zeitgenossen bleiben: Ob virtuelles Handeln reales Handeln ist oder ob es für die allermeisten nicht vielmehr ein neues Angebot der repressiven Toleranz zur Simulation von realem Handeln bleibt, ist für mich zumindest fraglich.

(12.08.2006; 20.09.2017; 22.05.+21.06.2018)

 

Nachtrag 2

Heute bin ich überzeugt, dass es Cyberspace nicht einmal braucht. Das mag ein Angebot für Junkies der Virtualität sein. Es genügt vollkommen, die Menschen flächendeckend so an die elektronische Kommunikation anzubinden, dass sie entortet und entzeitlicht werden. So bewegen sie sich im Hier und Jetzt ohne kritische Aufmerksamkeit.

In den Pflegewissenschaften spricht man bei der Charakterisierung von Verwirrtheitszuständen davon, Menschen seien «örtlich und zeitlich desorientiert». Die jungen verkabelten Monaden, die ich heute überall herumirren sehe, sind über das Kabel entortet und entzeitlicht. Sie merken es nicht, weil sie die Kontrolle und die Überwachung als Freiheit des unbeschränkten Medienkonsums erleben. Das Medium ist die Botschaft. Sie lautet: Repression. Der ideologische Überbau verspricht das Gegenteil: Freiheit. Auch ich hänge von Jahr zu Jahr mehr mit drin.

(15.09.2017; 22.05.2018)

 

Nachtrag 3

Im neuesten Samstaginterview des «Bunds» habe ich ein neues Wort kennengelernt: «Brainhacking». Die interviewte Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel hat eben ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Mein Kopf gehört mir. Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking». Während sie im «Bund» das Thema nur streift, hat sie am 11. April 2018 in der «Zeit» unter dem Titel «Der Spion in meinem Kopf» geschrieben: «Es ist grossartig, welche Fortschritte an der Nahtstelle von Neuro- und Computerwissenschaften möglich werden.» Aber auch: «Wir sind längst Cyborgs, nur dass die Schnittstelle zum Internet bislang noch in unserer Hand liegt. Nun soll sie ins Gehirn wandern.» Es gebe ein Projekt mit dem Ziel, bis 2050 das Denken von Einzelnen massenweise in einer riesigen «Hirncloud» zu vernetzen. Das würde es nicht nur ermöglichen, die Gedanken von Menschen mitzuverfolgen und so «einen nahezu unbegrenzten Zugriff auf das Individuum» zu erlangen, sondern: «Wo sich Gedanken aus dem Gehirn lesen lassen, da lassen sie sich im Umkehrschluss auch hineinschreiben.»

Wo die Herstellung von Knechten seit jeher eine Sozialtechnologie von Überwachen und Strafen voraussetzte, könnte bereits in wenigen Jahrzehnten eine elektronische Technologie genügen. Und wo es bis heute nötig ist, die Identifikation der Knechte mit ihrer Rolle mit ideologisch-propagandistischer Dauerberieselung zu hegen und pflegen, könnten zur definitiven Herstellung von Knechten dazumal einige Mausklicks genügen.

(22.05.2018)

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