Die Debatte mit Anatol Ruhnke

I

Am 29. Januar 1990 erhielt ich von Michele Jordi[1], einem Ökonomen und guten Bekannten, dem ich ein Exemplar des «Konvoluts» abgegeben hatte, einen Brief zugeschickt, den er auf einer Begleitkarte handschriftlich so kommentierte: «Beiliegend noch die abgefuckten Bemerkungen eines ehemaligen Ökonomieassistenten in Bern, der ins Verlagsgeschäft eingestiegen ist und welchem ich dein Konvolut zum Lesen gab. Mangels deiner Adresse hat er mir sein Schreiben zur Übermittlung an mich geschickt. Eine Antwort dürfte sich erübrigen.» Beigelegt war der Brief von Anatol Ruhnke, dem leitenden Geschäftsführer des Ruhnke & Kiel Verlagshauses in Hildendorf (BRD). Er lautete:

«Sehr geehrter Herr Alfred Lerch

Mit grossem Interesse habe ich Ihren Poesieband gelesen, welcher mir von dritter Seite zugestellt wurde. Schon die unkonventionell-biedermännische Aufmachung hat meine Aufmerksamkeit erregt. Einen erfrischend neuen Wind hat jedoch vor allem Ihr Vorwort in unsere Marketing-Abteilung gebracht. Letztere hat sich auf meine Anregung hin entschlossen, jungen und talentierten, auf den Markt stossenden Autorinnen und Autoren nahezulegen, in einer bescheidenen Auflage ‘auf Papierseiten festgehaltene Luft’ unentgeltlich an einen vom Verlagshaus in Zusammenarbeit mit dem Autor bestimmten Leserkreis zu bringen. Der durch dieses ‘direct mailing’ erreichte Personenkreis dient unserer Marketing-Abteilung als ‘resting-sample’, um die Marktfähigkeit des Produkts in Erfahrung zu bringen. Das Flair der Exklusivität einer solchen Vor-Ausgabe sublimiert zudem die Ware in den Status eines Kunstgegenstandes, dessen Besitzer des weiteren einen gewissen Stolz über seine Wahl als Initiierter verspürt: Erlangt der Poet in der Folge Berühmtheit, kommt den Bänden der Gratisauflage eine pekuniäre Bedeutung und eine Handelsfähigkeit zu.

Sie sehen, Herr Lerch, die Gesetze des Marktes sind stärker als der Wille des Autors. Die Erkenntnis, dass selbst ‘Luft’ unter gewissen Bedingungen der kommerziellen Logik unterworfen werden kann, hat mich bereits vor Jahren ebenfalls erschüttert, als in japanischen Grossstädten an ‘Luftkiosken’ mit Sauerstoff angereichertes Lebensgas angeboten wurde. Da ich selbst einer marxistischen Tradition entkommen bin, erinnere ich mich ebenfalls der Tatsache, dass im Kapitalismus der Tauschwert einer Ware zwar durch die darin enthaltene Arbeitszeit bestimmt ist, dass jedoch der eigentliche Produzent, der Handwerker, der Poet, nur eine beschränkte Verfügungsgewalt über das Produkt hat, obschon er Produktionsmittelbesitzer ist. Denn: Von dieser Ebene abgehoben und eine Sache für sich ist, gerade auf dem Kunst- und Literaturmarkt, der Entscheid, wann ein Produkt zur Ware wird. Eine Schenkung entzieht einem Produkt nicht seinen Warencharakter, weil dieses einzig dann nur einen Gebrauchswert hat, wenn der Produzent für seinen eigenen Bedarf produziert – was in Ihrem Fall nicht geschehen ist. Eine Schenkung ist denn auch eine nicht beidseitig vollzogene Tauschbeziehung in dem Sinne, als der Zedent die Verfügungsgewalt über das Produkt an den Beschenkten abgibt.

Die von Ihnen angesprochene Nützlichkeit wird also nicht durch den Autor Lerch bestimmt, sondern durch den beschenkten Leserkreis. Ein ‘Buch’ werden Ihre Poesieseiten folglich dann, wenn der Leser es nicht in die Aare wirft, sobald er die Verpackung geöffnet hat, sondern selbiges Werk liest oder gar verschlingt, was seinen Nutzen erhöht, der seinerseits bestimmend ist für den Marktwert, den Preis, insbesondere einer limitierten Auflage (nicht zu verwechseln mit dem Tauschwert).

Gerade die Nicht-Öffentlichkeit Ihres ‘Konvoluts’, lieber Herr Lerch, erhöht dessen Marktwert. Es ist eben kein zusammengerolltes Pergament in Ihrem Dachstock, auf welchem Katze und Mäuse herumbalgen oder welches Ihre Frau verächtlich in den Kamin geworfen hat, womit sie endgültig darüber verfügt hätte; nein, es sind bedruckte Seiten, die Sie einer – beschränkten – Öffentlichkeit preis-gegeben haben. Da diese Öffentlichkeit einer ersten Umfrage zufolge Ihr Erzeugnis hoch schätzt, ist es bereits zu einer Reihe von Handänderungen gekommen, deren Charakter sich Ihrer Kontrolle entzieht.

Da die erwähnte Umfrage mich in meiner Überzeugung über die Qualität Ihres ‘Konvoluts’/Ihres Buches nur bestätigt haben, bin ich entschlossen – angesichts der fehlenden autorenrechtlichen Sicherung – Ihren Band in der Poesiereihe ‘Gesänge aus dem Untergrund’ herauszubringen. Behaftet mit dem ‘Bannspruch der Poesie’, welchen ich schweren Herzens ‘in Kauf’ nehme, hoffe ich dennoch, Sie baldmöglichst in unserem Verlagshaus empfangen zu dürfen, um die finanziellen Modalitäten eines zweiten ‘Konvoluts’ mit für Sie günstigeren vertraglichen Bedingungen diskutieren zu können.

Es grüsst Sie freundlichst mit verlegerischer FREIHEIT

Anatol Ruhnke (Leitender Geschäftsführer)»

 

II

Mit Datum vom 2. Februar 1990 schrieb ich unter dem Briefkopf «Lerch&Söhne&Töchter/ Der Verlag für jedes Buch nach dem endgültigen Konvolut, Bern» an Anatol Ruhnke wie folgt:

«Lieber Herr Ruhnke

Der biedere Berner Bundesbeamte Michele Jordi, der Ihnen mein ‘Konvolut’ freundlicherweise zur Kenntnis gebracht hat, wird Ihnen, wie ich hoffe, diese meine Antwort auf Ihr Schreiben ebenso getreulich weiterleiten, wie selbiges selbst an mich. Obschon ich ja im Besitze Ihrer werten Adresse bin, wähle ich für meine Replik diesen Weg, weil ich, was Sie sich vorstellen können, zur Zeit finanziell ein bisschen abgebrannt bin und ich mir so 1 Auslandporto sparen kann.

In der Tat: Was mir mein munterer Mitstreiter Michele von Ihnen übermittelt hat, bringt mich in massivste argumentative Verlegenheit und hat die ökonomisch geschulten Skeptiker meines Projekts in meinem Bekanntenkreis zu einem für mich deprimierenden, spontanen, schenkelklopfenden Hurra-Gebrüll verleitet. Ich gebe zu, ich bin widerlegt. Marxens Analyse der Warenform, der ich mich in einer unverantwortlich eklektizistischen Art und Weise bedient habe, widerlegt mich bei genauerem Hinsehen selber. Die pseudo-ökonomische Argumentation des ‘Konvolut’-Geleitwortes macht dieses zu einem moralinsauren Traktätchen, das weiter nichts besagt als: Der aufgeblasene Lerch befindet, seine Texte seien zu gut für diese Welt; zuerst müsse eine neue Welt her, erst dann geruhe er, ihr diese seine Arbeit als vernünftiges Buch zu übergeben. Es ist schon deprimierend.

Das ‘Konvolut’, ich sehe es ein, bleibt vor dem unbestechlichen Blick des geschulten Warenform-Analytikers ein Unmögliches, mag ich seine Möglichkeit (um nicht zu sagen: seine Existenz) behaupten, wie ich will. In dieser Welt gibt es keine ‘Konvolute’, nur Bücher. (Jedoch, immerhin dies werden Sie anerkennen müssen, gibt es jetzt die zwar falsche, aber trotzdem zurzeit eifrig diskutierte Idee des ‘Konvoluts’.)

Was tun, Herr Ruhnke? In diesem historischen November 1989, mit dem mein ‘Geleit’-Wort nichts weniger als prophetisch datiert ist, haben sich ja noch ganz andere, von aufrechten Linken oder doch Links-Sich-Wähnenden behauptete Gedankengebäude nicht mehr länger behaupten können vor der alle Fisimatenten der Sozialillusionisten und -Innen und anderer verquerer Schöngeister wie nichts plattwalzenden ökonomischen Tatsächlichkeit. Den Versuch einer linken oder doch links-sich-wähnenden Argumentation als Irrtum zu durchschauen, ist deshalb auch für mich gerade jetzt und gerade Ihnen gegenüber keine Schade. Einzig meine momentane finanzielle Abgebranntheit hat mich davor bewahrt, Hals über Kopf nach Hildendorf zu wallfahrten, um dort Ihr «Begrüssungsgeld» in Form eines vorteilhaften Vertrags für das von Ihnen geplante, zweite ‘Konvolut’ in Dankbarkeit entgegenzunehmen.

Ich bin zu Hause geblieben und habe mein vollständiges argumentatives Debakel in alptraumerschütterten Nächten überschlafen und mich, um das Schlimmste abzuwenden (bereits habe ich in der letzten Nacht von meiner Zeit in der Rekrutenschule geträumt: ein sicheres Zeichen für eine akut hereinbrechende Depression), zu einem dramatischen biografischen Bruch durchgerungen: Ich wandle mich in diesen Tagen vom weltfremden Saulus zum kulturschaffenden Paulus. Womit wir, lieber Herr Ruhnke, beim Geschäft wären.

Folgende zwei Vorschläge möchte ich Ihnen als Diskussionsgrundlage unterbreiten:

1. Wenn wir ins Geschäft kommen wollen, so müssen Sie mich natürlich in Bezug auf das ‘Konvolut’ schon mein Gesicht wahren lassen. Deshalb schlage ich Ihnen vor, erstens die Endgültigkeit der ‘Konvolut’-Auflage zu akzeptieren und zweitens ein Buch herauszubringen, das inhaltlich identisch ist mit dem ‘Konvolut’, jedoch einen neu getexteten Umschlag hat mit folgendem Wortlaut: ‘Fredi Lerch/ Gesammelte Werke Band 1/ (gross:) Das Buch ‘Konvolut’/ Reihe Gesänge aus dem Untergrund.’ – Da mir, Herr Ruhnke, so klar ist wie Ihnen, dass dieses Buch – Gesammelte Werke als Erstling: das ist eine absolute belletristische Novität! – bis in die grossen Feuilletonredaktionen hinein Furore machen wird und schon deshalb grosse Chancen hat, zu einem der ersten Bestseller des neuen grossdeutschen Literaturmarktes zu werden, scheinen mir als mein Honorar 50000 DM sofort plus 18 Prozent jedes verkauften Exemplars eine bescheidene Forderung zu sein. (Die Druckvorlagen kann ich Ihnen sofort nach Vertragsabschluss liefern.) Im Hinblick auf die von Ihnen angesprochene ‘fehlende autorenrechtliche Sicherung’ des ‘Konvoluts’ bitte ich Sie, sich, bevor Sie einen Fehler mit Kostenfolge machen, die Meinung meines juristischen Interessenvertreters, Fürsprecher Dr. iur. Willi Egloff, Effingerstrasse 4a, CH-3001 Bern, 0041 31 26 08 38, anzuhören. Ihm habe ich, zur Einarbeitung in der Materie, eines der ersten ‘Konvolute’ überhaupt überlassen.

2. Da, wie Sie richtig bemerkt haben, mein ‘Erzeugnis hoch [ge]schätzt’ wird und sich eine intensive Rezeption desselben abzeichnet, habe ich mich bereits jetzt dazu entschlossen, selber ins Verlagsgeschäft einzusteigen (vgl. Briefkopf; es handelt sich erst um einen Entwurf). Das erste Buchprojekt trägt den Arbeitstitel ‘Disput um ein Unmögliches – Fredi Lerchs ‘Konvolut’ und die Folgen’. Wenn es der beschränkte Platz erlauben wird (geplant ist eine handliche Ausgabe von 120 Seiten, voraussichtl. Ladenpreis: 29.90 CHF), werde ich darin auch Ihren werten Brief aufnehmen. Für Ihr Einverständnis danke ich Ihnen zum Voraus, umso mehr, als mir auch in diesem Fall eine eher bescheidene autorenrechtliche Absicherung des Textmaterials vorzuliegen scheint.

Mir ist übrigens so klar wie Ihnen, dass sich ein Taschenbuch-Reprint unseres Materialienbandes in ihrem Verlagsprogramm sozusagen aufdrängt. Auch in diesem Punkt bin ich gerne bereit, mit Ihnen Verhandlungen aufzunehmen.

Zu diesem Zweck erwarte ich Sie gerne in unseren provisorischen Geschäftsräumlichkeiten an der Weissensteinstrasse 108 in Bern (wir bitten um Voranmeldung).

Übrigens, mein lieber Herr Ruhnke, hat mich – jenseits Ihrer etwas breitspurig hingeklotzten marxistischen Analyse – Ihr nur notdürftig verdecktes idealistisches Naturell fast wehmütig berührt. Warum, so frage ich mich auch heute noch, verschleudert einer sein vorzügliches Talent zum Geschäft an eine Branche, in der er nun wirklich mit Sicherheit nicht reich werden wird? Da hätten Sie ja, wie unser gemeinsam geschätzter Bekannter Jordi, ebenso gut gleich Bundesbeamter werden können.

In diesem Sinn grüsst Sie gleichermassen nachdenklich und zuversichtlich Ihr

Fredi Lerch (auch leitender Geschäftsführer)»

 

III

Mit Datum vom 17. Februar 1990 übermittelte mir daraufhin Jordi Anatol Ruhnkes vom 16. Februar datierte neuerliche Antwort nebst einer selbst verfassten Gedichtskizze als Beitrag zum von mir geplanten Kommentar- und Materialienband. Hier Ruhnkes Replik:

«Sehr geehrter Herr Lerch

Eine Rückfrage meinerseits bei unserem gemeinsamen, beamteten Freund hat meine Vermutung bestätigt, dass es sich bei Ihrem Verlag um eine Tarnorganisation handelt. Darüber kann auch das etwas altmodische, ja hinterwäldlerische Briefkopf-Design nicht hinwegtäuschen. Sollten zwischenzeitlich dennoch Töchter und Söhne unterwegs sein, werde ich mich ja nicht besonders um ein Erscheinen des Ergänzungsbandes zu Ihrem ‘Konvolut’ in Ihrem ‘Verlag’ sorgen müssen, da Sie für solche für einen Familienvater extravaganten Freizeitbeschäftigungen sicherlich keine Zeit mehr haben werden.

Ich erneuere deshalb mein Kooperationsangebot – auf der Basis von vernünftigen Bedingungen. Diese richten sich – wie Sie richtig bemerkt haben – nach den Tarifen, welche seit kurzem auch für unsere gleichsprachigen Kollegen im Osten Geltung haben, die sich auch nicht durch einen exorbitanten Lebensstil von ihrer Arbeit abzulenken gedenken.

Mit freundlichen Grüssen

Anatol Ruhnke (wirklich leitender Geschäftsführer)».

Das beigelegte Sonett lautete:

«Weggelesen©

In© Sucht© und© Suche©
nach© druck-freiem© Raum©
so© hörte© ich© kaum©
das© Zischen© und© Gurgeln© im© Buche©

Zappelnd© im© Netz© gehangen©
Des© ewigen© Fragens©
Und© wühlenden© Nagens©
Mit© glasigem© Blick© über© Seiten© gegangen©

Was© fehlt©? Was© sticht©?
Was© falsch©? Was© nicht©?
An© diesem© Strich© wird© aufgehenkt©

Doch© nun© hab© ich© entbannt©
Mich© zum© Lesen© bekannt©
Und dieser Satz wird dir geschenkt

 

IV

Am 11. März schrieb ich an Michele Jordi:

«Lieber Michele

Schande über Dich! Jetzt hast Du mich also beim Ruhnke verpfiffen, mein Verlag ist als Tarnorganisation durchschaut und ich werde statt mit Gegenargumenten beglückt, mit Ost-Mark abgespiesen. Ich habe mich nun entschieden, meine Taktik gegen den aufsässigen Menschen zu ändern: Ich betreibe ab sofort konsequente Gesprächsverweigerung bis zu einem allfälligen ersten Prozesstermin und obliege zwischenzeitlich der poetologischen Aufrüstung: ich habe unser Kellerabteil hier nun in eine hochexplosive Bastelstube verwandelt und entwickle zurzeit den schon im Impressum des ‘Konvoluts’ angesprochenen Bannspruch der Poesie zu einer gnadenlosen Erstschlagwaffe weiter. Wer von ihr getroffen wird – soviel kann ich jetzt schon verraten –, dem wird eine fixe Idee unauslöschlich ins Hirn gebrannt und er muss, bei Tag und bei Nacht, genau alle zwölfeinhalb Minuten, zwanghaft, laut und deutlich sagen: «Ich habe immer recht.» Für die Umwelt des Getroffenen wird das innert einiger Tage derart unerträglich, dass sie ihn zu meiden beginnt. Der Getroffene vereinsamt und verfällt einer hoffnungslosen geistigen Umnachtung, aus der er sich nur retten könnte, wenn es ihm gelänge, selber Lyrik zu verfassen und damit vor ein Publikum zu treten. In diesem Fall würde ihm dann meine weitherum gefürchtete Arbeit als Literaturkritiker den Rest geben. – In diesem Sinn bitte ich Dich, dem Ruhnke noch einmal im Guten zu signalisieren, er solle keinen Fehler machen, mit dem Lerch sei nicht zu spassen.

Was nun Deine Gedichtskizze ‘Weggelesen’ betrifft: Sie ist so brillant wie falsch. Brillant ist sie, weil sie die Frage nach den Besitzverhältnissen an der Sprache auf eine geradezu klassisch-strenge Art darstellt. Falsch ist sie, weil sie die Besitzverhältnisse an der Sprache dort ortet, wo sie nicht zu finden sind: am einzelnen festgeschriebenen Begriff. Ich verweise auf die Kritik an der Duden-Sprache und an jene der Konkreten Poesie (Konvolut, S. 238): Besitzbar ist Sprache bloss als ‘tote, abgetötete’; ‘die schrägheit der sprache ist das leben der poesie’.

Mit anderen Worten: Die Besitzverhältnisse an der Sprache entscheiden sich nicht an der Substanz der Einzelbegriffe (je länger ich die Einzelbegriffe Deiner Gedichtskizze betrachte, desto leerer werden sie: Deine Copyright-Zeichen schützen von Begriff zu Begriff ein Nichts). Die Besitzverhältnisse an der Sprache sind ausschliesslich im Prozess fassbar, in den die Begriffe gesamtgesellschaftlich eingespannt sind. Wörter bedeuten nur insofern etwas, als sie Chiffre für kommunikative Interaktion sind. (Diesen ‘Paradigmenwechsel’ von der Substanz zum Prozess habe ich übrigens bei meinen ersten Annäherungen an Habermas gelernt: ‘Seine Vernunft wird nicht länger substantiell, sondern ausschliesslich als prozedurales Verfahren konzipiert.’[2]

Kurzum: Dort, wo Deine Skizze das Eigene thematisiert, habe ich es nie behauptet. Zu unterscheiden wäre wohl – ich merke, dass ich noch viel zu unklar rede – das ökonomisch Eigene vom inhaltlich Eigenen – der Text als Resultat von geleisteter Spracharbeit, an dem es urheberrechtsrelevante Besitzansprüche gibt (geben muss) von der Sprachwerdung des sprechenden Subjekts (ich sage das so pathetisch, weil für mich das Eigene an der Sprache in diesem zweiten Sinn entschieden mehr ist als die ‘eigene Meinung’).

Übrigens schreibe ich im ‘Konvolut’: ‘während meiner auseinandersetzung mit der frage, wem die sprache gehöre, habe ich kein erklärungsmodell gefunden, das auf eine plausible art das sprachmaterial als eigenes beschrieben hätte’ (S. 190). Gerade heute bin ich allerdings auf eine Textstelle erneut gestossen, die ich in dieser Formulierung unterschlagen habe, und die aus poetischer Sicht mindestens bedenkenswert ist. In den ‘Notizen’ schreibt Ludwig Hohl zur Frage, was das Eigene sei an einem Text: ‘Das voll, das in jedem Teil Verantwortete. Denn die Worte, und sogar die Wörter, sind eben keineswegs jedermanns Sache wie die Luft; sie sind von jemand geschaffen worden und dem gehören sie, gehören sie allein, solange, bis ein anderer sie erkauft. Das Lösegeld ist: volle Notwendigkeit. Wenn du ohne diesen Preis gezahlt zu haben, Worte gebrauchst, hast du sie gestohlen.»[3] Hohls Position ist zwar vermutlich nicht haltbar, aber respektabel. Da es ihm nicht gelingt, das Eigene an der Sprache im Material festzumachen, ortet er es idealistisch im total verantworteten, absolut notwendigen Wort. Er macht sogar ein Beispiel: ‘Einer fleht: Bleibe. Ich sterbe. Du siehst ihn an und aus seiner Bleichheit, aus dem Ton seiner Rede und aus hundert winzigen Dingen, die du nicht nennen kannst, geht dir zwingend auf – wie jedem aufgehen müsste –, dass es seine Worte sind.»’[4] In der Konsequenz bin ich mit Hohl einverstanden: Das Eigene mag es als völliges Randphänomen sogar geben, aber im alltäglichen Umgang, auch im literarischen, gibt es das Eigene an den Wörtern nicht.

Soweit einiges Unzusammenhängendes zum Eigenen an der Sprache. Ich hoffe, Dich nicht gelangweilt zu haben (jemandem muss ich’s ja erzählen, oder?).

E Gruess + e gueti Zyt

fredi»

[1] Heute amtet er unter dem Namen Michael Jordi als Zentralsekretär der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren.

[2] Helga Gripp: Jürgen Habermas. Paderborn (UTB Schöningh = UTB 1307), 1986, S. 129f.

[3] Ludwig Hohl: Notizen. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1984, S. 319f.

[4] Hohl, a.a.O, S. 320f.

[2008; 18.09.2017; 19.06.2018]

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