Giaco Schiessers Widerlegung der Konvolutform

In der WoZ Nr. 15 erscheinen am 13. April 1990 zwei Kleininserate, eines in der Rubrik «bücher», eines in der Rubrik «geld». Der Text lautet zweimal gleich: «Fredi Lerch: Konvolut. Bern 1990. Einmalige Auflage von 500 Exemplaren, die vom Autor als Geschenk an FreundInnen und Bekannte gratis verteilt wurden (siehe Rezension von Niklaus Meienberg in WoZ 14/90). Zu verkaufen an Meistbietenden. Offerten an: 81505.»

Mit diesem Tatbeweis sollte mir gezeigt werden, dass mein Versuch, Buchförmiges als Nicht-Ware zu definieren, illusionär sei. Ich stieg auf das Spiel ein, indem ich an WoZ/81505 folgenden Brief schrieb:

*

«Bern, 17. April 1990

LiebeR 81505

Du hast Dich also entschlossen, ein Exemplar des Konvoluts ‘an Meistbietenden’ zu verkaufen. Das sollst Du nicht tun. Da ich aber weiss, dass Du schon bis anhin nicht auf mich gehört hast, teile ich Dir mit, dass Dich im Augenblick des Verkaufs – wie auf dem Vorblatt des Konvoluts angedroht – ‘der Bannspruch der Poesie’ treffen wird. Was danach geschieht, lasse ich offen, ausser dieses: Danach wird es statt 520 nur noch 519 Konvolute und 1 Buch ‘Konvolut’ geben. Selbstverständlich wissen wir beide, dass es mit der Zeit immer weniger Konvolute geben wird: Ein Teil geht verloren, ein anderer wird weggeworfen, ein dritter wird eben verkauft. Und selbstverständlich widerlegt mich jedes Konvolut, das verkauft wird, weil ich dann seine Warenform endgültig nicht mehr leugnen kann.

Du hast also – selbstverständlich – recht. Aber recht haben kann jeder Holzkopf. Du schlägst mir die kapitalistische Logik um die Ohren, als hätte ich jemals bestritten, dass sie hier und heute derart übermächtig ist, dass sie zur einzig überhaupt denkbaren zu werden droht. Dabei ist meine Argumentation doch klar. Ich sage: Entweder ist die Idee des Konvoluts falsch oder die Konstruktion dieser Welt. Das eine schliesst wohl das andere aus. Jeder vernünftige Mensch zieht den Schluss: Dann muss die Idee des ‘Konvoluts’ falsch sein. Ich, als unvernünftiger Mensch, leiste es mir zu sagen: Die Konstruktion dieser Welt ist falsch. Jetzt passiert folgendes: Zwar wollen alle Menschen, die dem ‘Konvolut’ begegnen, vernünftig sein (nicht nur Du, obschon Du vielleicht Deine Ängste noch direkter mit dem zu unterdrücken versuchst, was Du unter ‘Vernunft’ verstehst), aber sie können zweierlei nicht bestreiten: So ganz richtig ist die Konstruktion der Welt wirklich nicht und von der falschen Idee des Konvoluts geht ein merkwürdiger Reiz aus. Bevor sich die vernünftigen Menschen wieder im Griff haben und sagen, dieser Lerch spinnt ja, einen 12'000er für eine solche Schnapsidee zu verlochen, passiert es ihnen, dass sie eine oder zwei unbewachte Sekunden erleben und schnell etwas Unvernünftiges denken.

Zwar hast Du, wie alle Holzköpfe, Pharisäer und Schriftgelehrten zu allen Zeiten, recht. Aber weil Du die unvernünftige Potenz der unbewachten Sekunden nicht kontrollieren kannst, bist Du der Wahrheit durch Deine Widerlegung der ‘Konvolut’-Idee um nichts nähergekommen. Denn die Wahrheit der ‘Konvolut’-Idee konstituiert sich nicht in ihrer Richtigkeit oder Falschheit gemessen an den aktuellen ökonomischen Herrschaftsverhältnissen. So gemessen, ist sie falsch (wie gesagt: bravo, dass Du das begriffen und so stringent widerlegt hast). Die Wahrheit der ‘Konvolut’-Idee jedoch konstituiert sich aus der Gesamtheit der geistigen Anstrengungen, die in sie investiert werden. Das wird Dich als viereckig realpolitisches Hirn eventuell ein wenig befremden: Die Wahrheit des ‘Konvoluts’ wird, über das hinaus, was ich als Input geben konnte, durch die Anstrengungen der Rezeption zurzeit erst hergestellt. Was die Wahrheit der fl.-‘Konvolut’-Idee ist, weisst Du, so gesehen, so wenig wie ich. Ob Dein Beitrag zu ihrer Konstituierung der geistvollste war, lasse ich offen. Immerhin hast Du Dir Mühe gegeben.

Da Du bei der WoZ arbeitest (wie sonst wäre Dein Inserat inkl. Meienbergverweis bereits am Sonntag, 8. April, gelayoutet worden?) wünsche ich Dir, dass Du die beiden Kleininserate nicht auch noch bezahlen musst. Sonst verdienst Du nicht einmal etwas beim Verkauf des ‘Konvoluts’.

Mit freundlichen Grüssen

fl.

PS Giaco[1], mittlerweile hast Du mir am Telefon gesagt, dass Du die Inserate gemacht hast. Du werdest das höchste eingehende Angebot Deinerseits um 20 Franken überbieten und mich mit dem Geld zum Essen einladen, das Du Dir selber bezahlst, um Dir so die dem Markt ausgesetzte und insofern als Ware durchschaute Nicht-Ware ‘Konvolut’ selber abzukaufen.

Jetzt wird’s ein bisschen kompliziert: Ich habe unvernünftigerweise bestritten, dass das ‘Konvolut’ auch nur in seiner Potentialität eine Ware sei. Du hast mich widerlegt, indem Du mit dem Inserat seine Warenform aktualisiert hast. Umgekehrt führst Du nun durch den ‘Rückkauf’ des ‘Konvoluts’ die provozierte Aktualität des Marktes in ihre Potentialität zurück. Du sagst also nicht: Ich verkaufe das Konvolut, respektive: Ich habe es verkauft; sondern: Ich könnte es verkaufen, respektive: Ich hätte es verkaufen können. So symbolisch, wie ich die Warenform des ‘Konvoluts’ bestritten habe, so symbolisch behauptest Du sie nun durch Ver- und Rückkauf von etwas, das sich – deklariert als Nicht-Ware – bereits in Deiner ausschliesslichen Verfügungsgewalt befindet.

Item: Als Verfasser des ‘Konvoluts’ stelle ich mit Befriedigung fest, dass Dich offensichtlich der Bannspruch der Poesie davon abgehalten hat, das symbolische Sprachspiel des ‘Konvoluts’ zu zerstören. Fast scheint mir, als habest Du, statt mich politisch von der unausweichlichen Wirklichkeit der kapitalistischen Warenlogik zu überzeugen, die Ebene des künstlerischen Ausdrucks betreten: mit einer Aktion von beachtlicher Unvernunft.»

[1] Gemeint ist der damalige Wissenschaftsredaktor der WoZ, Giaco Schiesser, von dem ich viel gelernt und an dem ich mich verschiedentlich gerieben habe. Er wirkte später in Zürich als Direktor des Departements Kunst & Medien der Hochschule für Gestaltung und Kunst und ist Professor für Kulturtheorien und für Medientheorien an der Zürcher Hochschule der Künste.

(15.09.2017; 20.06.2018)

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