Aus der Wüste herauskommen

«Nur diejenige Theorie ist ein Teil der Wahrheit, die im Leben dessen, der sie denkt, ausgelegt wird.» Max Horkheimers Satz ist das Argument dafür, dass ich an der Idee der «Poetischen Konstellation» nicht weiterarbeiten kann, wenn ich das «Konvolut» nicht unter die Leute bringe.

Erst die Distribution der Spracharbeit macht die auf Wahrheit zielende Erkenntnisarbeit zur Praxis der Kommunikation. Kopple ich mich von ihr ab, wird sie zu einem Gang in eine konturlose Wüste. Wer nicht kommuniziert, sagt nichts, auch wenn er die Formulierungsarbeit leistet. Erkenntnisarbeit ohne Vermittlungsarbeit ist sinnlos (oder sinnfrei?).

Konturlose Wüste: Erkenntnis eines absolut gesetzten Subjekts gibt es nicht. Jede Erkenntnisarbeit wird von einem sozialen Wesen geleistet, dessen Erkenntnisinteresse sich mit der gegebenen Gesellschaft und den gegebenen Herrschaftsverhältnissen auseinandersetzen muss und so relativ bleiben wird, wie es jeder mögliche gesellschaftliche Ort dieses Wesens ist. Horkheimers «Teil der Wahrheit» heisst auch: Erkenntnis bleibt relativ.

[1] Max Horkheimer: Späne, Gesammelte Schriften Bd. 14, Frankfurt am Main (Fischer) 1988, 209.

(28.04.1989; 15.09.2017)

 

Nachtrag 1

Dass ich damals – während meiner monologischen Überzeugungsarbeit, einen beträchtlichen Teil meines Ersparten in das «Konvolut»-Projekt zu stecken – nicht ökonomische Rücksichten erwog, sondern Fragen der Lyrikproduktion und der Erkenntnisarbeit wälzte, ehrt das Projekt als unvernünftiges.

Dass ich – obschon immer wieder von Existenzängsten geplagt – beim Formulieren an diesem Werkstück von ökonomischen Rücksichten absehen konnte, verweist auf die kontinuierliche Unterstützung durch meine damalige Lebenspartnerin H., die meinen Hang zur Unvernunft über Jahrzehnte durch stillschweigende Quersubventionierung abgesichert hat.

Dass ich mich davon überzeugen musste, Erkenntnis sei ohne Kommunikation nicht zu haben, sieht im Rückblick aus wie der Selbsttherapieversuch eines Autisten.

(27.06.1997; 31.12.2008; 15.09.2017)

 

Nachtrag 2

Nachdem ich das vormittags notiert habe, lese ich über Mittag Martin Ebels Rezension von Klaus Cäsar Zehrers eben erschienenem Roman «Das Genie». Ebel vermutet hinter der Genialität des historisch verbürgten Protagonisten William James Sidis «eine besondere Form des Autismus» und fährt fort: «Unter den vielen Sprachen, die er beherrschte, war auch das Vendergood, ein Idiom von ihm selbst erfunden und mit besonderen Schwierigkeiten gespickt: Symptomatisch dafür, dass das Genie gar nicht begriffen hat, wozu Sprache da ist, nämlich sich mit anderen Menschen auszutauschen.» (Bund, 15.09.2017).

Mein Problem waren weder Genialität noch Autismus, aber den kommunikativen Aspekt von Sprache (als relevant für meine Spracharbeit) habe auch ich verschiedentlich in Frage gestellt (zum Beispiel im Nachtrag hier).

(15.09.2017; 17.06.2018)

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