Ein «Falken»-Gespräch

Wie meistens, wenn er von Spanien oder von Norddeutschland kommend in Bern Halt macht, meldet sich Beat Sterchi telefonisch; um viertel vor sieben treffen wir uns in der Berner Altstadt, im «Falken», zu einem Bier.

Die Idee des «Konvoluts», von der ich ihm erzähle, dass sie sich langsam konkretisiere, bringt ihn zu ratlosem Kopfschütteln. Er wirft mir vor, dass ich die öffentliche Auseinandersetzung scheue, sozusagen zu feige sei, «richtig» zu publizieren. Für mich dagegen ist die «Öffentlichkeit» der Literatur illusionär. Jene, die Literatur produzieren, bilden sie sich mehr ein, als dass sie wirklich existieren würde. Und, verkünde ich gegenüber Sterchi vorlaut, der eben von den diesjährigen Solothurner Literaturtagen kommt, die Auseinandersetzung mit Leuten, wie sie in Solothurn verkehrten, bringe mir nichts, denen hätte ich nichts zu sagen und sie mir nicht. Jetzt bin ich, der belletristische Nowbody, für den hoffnungsvollen Autor des «Blösch», der die Protektion des grossen Diogenes-Verlags geniesst, elitär, arrogant und undemokratisch.

Diese verwirrenden Widersprüche zwischen meinem Fundamentalismus und seinem desillusionierten Pragmatismus bricht zwischen uns in der Einschätzung des Literaturbetriebs nicht zum erstenmal auf. Beide würden wir den Aufklärungsanspruch verteidigen. Für beide ist der Weg des andern suspekt.

Kann ich aber den Aufklärungsanspruch überhaupt verteidigen und gleichzeitig den Markt verweigern? Oder kann ich nur insofern aufklären, als ich mich dem Markt unterwerfe? Kant sagt: «[Zur] Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit, und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heissen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.»[1]

Verzichte ich, wenn ich den Markt verweigere, auf den öffentlichen Gebrauch der Freiheit und damit auf die Aufklärung? Sind, andersherum, Markt und Öffentlichkeit ein und dasselbe oder gibt es eine Öffentlichkeit ausserhalb des Marktes? Wenn ja, ist die Postulierung einer solchen Öffentlichkeit und der Versuch der Einübung von Praxis mit ihr elitär, respektive das Sich-Unterwerfen und Benützen des Marktes demokratisch?

Oder ist es allenfalls umgekehrt: Eine demokratische Öffentlichkeit ist – im Sinn des «herrschaftsfreien Diskurses» – nur ausserhalb des Marktes denkbar, der Markt dagegen funktioniert von vorneherein antidemokratisch? Wenn es so wäre: Gibt es dann überhaupt einen anderen Weg, den Aufklärungsanspruch in der Spracharbeit zu verteidigen, als jenen «unvernünftigen» praktisch nachzuweisen, dass Markt und Öffentlichkeit nicht zwingend identisch sind? Und dass das kapitalistische Universum nach wie vor schwarze Löcher aufweist, in die eines Tages seine ganze Ausdehnung, das heisst: seine ganze Logik hinabstürzen und delegitimiert zerschellen könnte?

Oder gibt es doch einen Aufklärungsanspruch von einer Bedeutung und Dringlichkeit, der die Skrupel bei der Vermarktung all dessen, was «öffentlich» werden will, als vernachlässigbar erscheinen lässt? Oder klärt Aufklärung im Markt nur insofern auf, als sie tabuisiert, dass sie eine Ware ist? Ist nicht der Buchinhalt der Schein, der das materiale Sein des Buches als Ware überdecken soll? Angenommen, ein Buch klärt tatsächlich auf: Worüber? Und worüber nicht?

[1] Immanuel Kant: «Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung?», in: ders.: Werke Band 9, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1964, S. 55.

(11.05.1989 [Notizbuch 1989ff., S. 47-49], 04.07.1997; 08.09.2017)

 

Nachtrag 1

Nicht mehr einverstanden bin ich mit dem Argument: «Für mich dagegen ist die ‘Öffentlichkeit’ der Literatur illusionär. Jene, die Literatur produzieren, bilden sie sich mehr ein, als dass sie wirklich existieren würde.» Im Rahmen der NONkONFORM-Recherchen in den 1990er Jahren ist mir danach klar geworden, dass Öffentlichkeit in Bezug auf Literatur grundsätzlich eine subkultuelle ist – wenn ich von den wichtigsten Events des Literaturbetriebs absehe. Illusionär wäre demnach, diese subkulturelle Öffentlichkeit mit der vor allem medial hergestellten gesellschaftspolitischen Mainstream-Öffentlichkeit zu verwechseln. Mag sein, dass die gesellschaftskritischen Literaten, die in den siebziger und achtziger Jahren tabakpfeifenrauchend auch durch grosse Medien geisterten, aus bestimmten poltischen Gründen (Kalter Krieg) eine etwas andere Rolle spielten. Aber diese Zeit ging 1989, als ich das Werkstück schrieb, eben zu Ende.

(14.09.2017; 17.06.2018)

 

Nachtrag 2

Eben kommt mir ein Ausdruck dieses Werkstücks in die Finger, der einen weggestrichenen letzten Abschnitt enthält, den ich jetzt wieder interessant finde: «Später kommt der Schriftsteller S. J. dazu, der an diesem Abend wie eine zerfetzte Standarte über dem Schlachtfeld seine Sensibilität und seine Zerbrochenheit vor sich her trägt. In der Diskussion sagt er mit Nachdruck: ‘Die Sprache gehört nicht nur den Besitzenden, sondern ebensosehr den Besessenen.’ Das ist ein brillant formulierter, doppelsinniger Irrtum: Besessene als Knechte haben einen entfremdeten, Besessene als Irre einen illusionären Sprachgebrauch, weil beiden Gruppen gleichermassen die Sprache nicht gehört (ihre Geschichten sind nach Foucault Geschichten des Stummgemachtwerdens). Später sagt J., die Sprache sei, in allen Beziehungen und Nuancen, der Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, insofern das präziseste und ‘wunderschönste’ Instrument des Menschen. Das ist schön gesagt. Nur ist die Wendung von der Sprache als ‘Instrument des Menschen’ eine antropologische Verschleierung des Problems: In der Praxis – wenn ein Mensch spricht –, ist nicht seine Antrophologie, sondern sein sozialer Ort entscheidend.»

(nach 04.07.1997; 05.10.2017; 17.06.2018)

v11.5