Eine These zur Print-Publizistik

Die Print-Publizistik hat sich seit 1900 in drei Schritten weiterentwickelt. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist sie dominiert von der narrativen Struktur der Darstellung, in der zweiten Hälfte von der argumentativen Struktur der Darstellung, und im Übergang zum 21. Jahrhundert entwickelt sich nun eine Hegemonie der additiven Struktur der Darstellung.

Die beiden Übergänge zu neuen Darstellungshegemonien sind vom Lesepublikum jeweils despektierlich mit dem Begriff der «Boulevardisierung» belegt worden. Der Begriff steht mehr für die kulturkonservative Grundhaltung des durchschnittlichen Lesepublikums als für analytische Schärfe, umso mehr als er auf zwei sehr verschiedene Phänomene angewendet wird. Das Verbindende der beiden Übergänge ist nicht die «Boulevardisierung» der Darstellung, sondern ihre zunehmende quasi-wissenschaftliche Abstrahierung, ihre zunehmende Entkoppelung von der Sinnhaftigkeit narrativer Darstellung.

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Stell Dir einen Bauplatz vor: Seinerzeit bot die narrative Darstellungshegemonie der Print-Publizistik gleichsam einen fertig verputzten Neubau mit Vorhängen an den Fenstern, Geranien auf den Balkonen und einer Schweizer Fahne vor dem Haus. Die argumentative Darstellungshegemonie bot danach zuerst noch Rohbauten vor der Aufrichte, bald einmal nur noch die Pläne, nach denen man auf dem Bauplatz zu arbeiten beginnen könnte, sollte oder nicht dürfte. Die additive Darstellungshegemonie bringt nichts Anderes mehr als den fotografischen Blick auf die Baustelle: Schau her, das ist der Platz, hier sind die gestapelten Backsteine, dort die Zementsäcke und dort drüben der Wasseranschluss. Mach damit, was du willst. (Zu machen ist allerdings nichts, weil kein Bauplatz, sondern nur der mediale Schein davon geliefert wird.)

Dieser Abstrahierungsprozess hat zu tun mit der Individualisierung der Wirklichkeitssicht, das heisst mit der Dekonstruktion von allgemeingültiger «Wirklichkeit». Unterdessen sind, so sieht es aus, die von den Theoretikern der Postmoderne analysierten und verworfenen «grossen Erzählungen» auch als kleine Erzählungen in der medialen Darstellung erledigt. Aufklärung als Substanz – das bessere Haus gegenüber dem bestehenden schlechteren – ging mit der narrativen Darstellungshegemonie unter. Aufklärung als Prozess des herrschaftsfreien Diskurses – also die Debatte um die Baupläne und Konstruktionsanregungen für das bessere Haus gegenüber dem bestehenden schlechteren – geht nun mit der argumentativen Darstellungshegemonie unter. Die jetzt zur Hegemonie gelangende additive Darstellung sieht es nicht mehr als ihre Aufgabe an, Hinweise zu geben, was auf der fotographisch abgebildeten Baustelle zu unternehmen sei. Narrativer und argumentativer Sinn werden gleichermassen als tendenziös und unprofessionell verworfen.

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Der erste Übergang – von der narrativen zur argumentativen Hegemonie – um die Mitte des 20. Jahrhunderts wird in der Deutschschweiz unübersehbar durch die Lancierung der «Boulevard»-Zeitung «Blick» 1959 markiert. Der Erfolg dieser Zeitung steht für die Tatsache, dass zuvor ein beträchtliches, unterprivilegiertes und bildungsfernes Publikumssegment von der bildungsbürgerlichen Zeitungserzählung der Welt überfordert, ausgeschlossen und abgehängt worden war. Dieses Segment machte der Ringierkonzern erfolgreich zum Markt, indem er die untergehende narrative Hegemonie auf das Niveau der «kleinen Leute» herunterbrach und so kommerziell erfolgreich recycelte. Gleichzeitig wurde die Verkleinbürgerlichung der Narration von der bildungsbürgerlich getragenen, aufsteigenden Hegemonie der Argumentation mit dem Begriff «Boulevard» diskreditiert und diente auf dem Feld der Distinktion zur Abgrenzung gegen unten. (Bemerkenswerte Kindheitserinnerung: Am Kiosk konnte man damals die «NZZ mit» kaufen und erhielt dafür gegen entsprechenden Aufpreis die NZZ mit diskret eingelegtem Blick).

Analytisch falsch ist es, die seit dem Jahrtausendwechsel neu und erfolgreich aufkommenden Gratiszeitungen im Tabloidformat (20 Minuten u. a.) als «Boulevard»-Zeitungen zu bezeichnen. In der publizistischen Stossrichtung sind sie im Vergleich zum «Blick» ab 1959 eher das Gegenteil von Boulevard. Sie sind das breitenwirksame Kampfmittel einer postmodern dekonstruktiven Print-Publizistik gegen die untergehende argumentative Hegemonie. Dieser Dekonstruktion dient die additive Darstellungsform, die auf jeden narrativ oder argumentativ kausalen «Kitt» verzichtet: Nackt und abstrakt folgt Fakt auf Fakt. Eine Welt, die sich in zwanzig Minuten nicht abbilden lässt, ist keine.

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Zu verstehen ist diese additive Erzählstruktur als Reaktion der Print-Publizistik auf die veränderten Rezeptionsgewohnheiten insbesondere des jungen Lesepublikums. Dieses Publikum ist zentral nicht mehr logozentrisch, sondern audiovisuell konditioniert (wer mag, darf hier lesen: geschult). Die additive Erzählstruktur adaptiert deshalb ein zentrales Gliederungsinstrument audiovisueller Darstellungsweise: den Schnitt (der sich in der avantgardistischen Romanarbeit seit hundert Jahren in der Montagetechnik vorbereitet hat): Statt Episode auf Episode, respektive Gegenargument auf Argument, folgt jetzt in der Linearität der sprachlichen Darstellung nach jedem Fakt ein Schnitt. Warum nach dem Schnitt hinter Element A das Element B folgt, wird nicht mehr explizit gemacht. Gleichermassen ausgeblendet werden so die moralische Quintessenz des via Narration transportierten Erfahrungswissens und die argumentative Evidenz aufgrund der theoretischen Anstrengung. Als sinnhaft zu verstehen ist die additive Montage von den Rezipierenden nur noch dann, wenn sie Lust verspüren, die gereihten Einzelelemente selber sinnhaft zu verbinden – ansonsten hat die Zeitungslektüre immer mehr im besten Sinn des Begriffs keinen Sinn.

Die bisher implizite Voraussetzung der Print-Publizistik – dass Wirklichkeit bereits vor ihrer medialen Umsetzung sinnerfüllt sei und dass dieser Sinn bloss auf die eine oder andere Weise in der sprachlichen Abbildung nachvollziehbar gemacht werden müsse – ist als ideologische Konstruktion durchschaut und wird verworfen. Die These der additiven Perspektive: Wirklichkeit, auch soziale, ist wenn nicht sinnlos, so doch stets sinnfrei. Erfolgreich ist die neue Darstellungsweise jedoch nicht wegen dieses ideologiekritischen Anspruchs, sondern weil sie Rezeptionsgewohnheiten bedient, die den Vorlieben und Fähigkeiten des nachwachsenden Publikums entsprechen.

Die Audiovisualisierung der Rezeptionsgewohnheiten im Bereich der Print-Publizistik hat Folgen: Ein zentrales Element der Wirklichkeitsabbildung in der Schrift basierte bisher auf einer Grammatik, die durch bestimmte Ordnungsprinzipien, durch Kausalbezüge zwischen den hintereinander gestellten Einzelelementen Sinn zu erzeugen vermochte. Durch das additive Nebeneinander ungewichteter Fakten werden die Ordnungsprinzipien der sprachlichen Grammatik tendenziell durch solche einer audiovisuellen Grammatik ersetzt. Eine Grammatik des audiovisuellen Schnitts existiert jedoch als Element der Filmtheorie nach einer hundertjährigen Praxis erst rudimentär. Das heisst, dass die additive Darstellungsweise in der Print-Publizistik die Interpretationsmöglichkeiten dessen, was über das Einzelelement hinaus dargestellt wird, sehr stark anwachsen lässt. Erzwang die narrative Struktur wegen der klaren Ursache-Wirkung-Bezüge eine Eindeutigkeit und die argumentative Struktur eine Mehrdeutigkeit innerhalb eines Diskursfeldes, ermöglicht die additive Struktur die nahezu beliebige Interpretierbarkeit: Die Rezipierenden können sich nach der Lektüre eine eigene Geschichte und eine eigene Erklärung konstruieren aus den ungewichteten Wirklichkeitspartikeln – wenn sie das wollen. In aller Regel lassen sie es bleiben, weil man sich beim Konsumieren ungern anstrengt.

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Hat der Übergang Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts den bildungsfernen Segmenten die «Boulevard»-Narrativität als verkleinbürgerlichten Schmalspurjournalismus angeboten, so wird im Übergang, den ich heute beobachte, das auf die argumentative Erzählstruktur konditionierte bildungsbürgerliche Publikum abhängt und tendenziell an ein elaboriertes Set von Special-Interest-Medien verweisen (zunehmend auch elektronischen). Die Mainstream-Printpublizistik fokussiert derweil auch aus ökonomischen Gründen mit zunehmend sinnfreiem Journalismus den möglichst vollständigen Markt aller, die lesen können. Deshalb wird sie die additive Erzählstruktur weiterentwickeln. Aufklärung als narrative Vermittlung von Erfahrungswissen oder von argumentativer Bemühung um Sinnhaftigkeit wird zum Steckenpferd von Subkulturen werden. Journalistischer Anspruch, der an Erzählung oder Theorie festhalten will, wird vom Printmedienmainstream umgekehrt immer mehr als unprofessionell delegitimiert und vom kleingewerblichen Literaturbetrieb als unkanonisierte Schreibe ignoriert werden. 

Aus dieser Perspektive scheint mir, dass sich die Print-Publizistik von den Strategien der Aufklärung trennt und Räume einer als unveränderbar dargestellten Gegenwelt besetzt, die sie für «objektiv» hält, jedoch bisher eher als für den belletristischen Sandkasten charakteristisch betrachtet wurden. Dieser Sandkasten wird jetzt fürs Publikum geöffnet. Jeder und jede soll sich eine individuelle Wirklichkeit zusammendichten. So, wie man in den Warenhäusern immer häufiger am «Self-Checkout» die Rechnung selber machen muss, um die einzelnen Waren als Eigentum betrachten zu können, so muss man sich bei der Zeitungslektüre immer häufiger auf die einzelnen, medial transportierten Partikel von Wirklichkeit einen eigenen Reim machen, um sie sich als Teil des eignen grösseren Ganzen aneignen zu können. Dadurch wird Wirklichkeit entöffentlicht und entpolitisiert. Der additive Printmedienmainstream entwickelt sich so paradoxerweise – gerade, weil er die soziale Welt in quasi naturwissenschaftlicher Sinnfreiheit spiegeln will – zum Belltristikgenerator in jedem einzelnen Kopf seines Publikums. Die vorgelesene Belletristik des Literaturbetriebs brauchen immer mehr nur noch jene, die nicht Zeitung lesen können oder wollen.

Die Frage, die sich mir nach dieser These stellt: Wie soll ich mir die Selbstverständigung einer politischen Öffentlichkeit über unzusammenhängende Nischen hinaus, also in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen, für die Zukunft vorstellen?

(17./18.01.2009; 02./04.09.2017; 08.06.2018)

 

Nachtrag

Eine steile These, interessant als Denkspiel, empirisch allerdings voller Widersprüche. Denke ich sie mir allerdings mit dem Werkstück «Public Relations» zusammen, dann ergibt das zum Beispiel folgendes: 

Der angesagte Qualitätsjournalismus transportiert heute neben der Hegemonie der additiven Darstellungsweise sehr wohl auch narrative Sinnhaftigkeit. Allerdings wird diese immer ausschliesslicher von Framing-ExpertInnen der politischen Propaganda vorproduziert.

Narrativität ist nicht mehr das Geschäft der edlen Seelen belletristischer Kunstfertigkeit oder investigativer Hartnäckigkeit, sondern jenes von anonymen PR-Schmuddelkindern aller Grade, die die (Print)medien mit dem alimentieren, was diese danach – mangels Zeit zur Gegenrecherche immer ausschliesslicher – als «die Wirklichkeit» abbilden und weitertransportieren. Selbstverständlich fair und wertfrei, wie es sich für Qualitätsjournalismus gehört.

(04.09.2017; 08.06.2018)

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