Parias und Kurzstoffjoggel

Am 23. November 1991 fand in Olten eine ausserordentliche «Inland»-Sitzung der WoZ-Redaktion statt. Mein Diskussionsbeitrag liegt als Word-Datei vor, die den Namen trägt: «Parias und Kurzstoffjoggel». Der Text selber trägt den Titel: «Sind wir die Parias der Redaktion? – Ja doch. Aber was soll’s?»

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«Parias sind ausserhalb jeder Kaste stehende InderInnen. Parias der WoZ-Redaktion sind all jene, die seit der Lancierung der WoZ 90 ausserhalb der publizistisch-strategischen Positionen, den sogenannten ‘Gärtchen’, stehen. An der konstituierenden Sitzung der Inland aktuell-Redaktion warnte die damalige Basler Redaktorin kk am 5. Juli 1990, die Inland-Leute müssten zu verhindern suchen, dass sie einfach zu den ‘Kurzstoffjoggeln’ der Redaktion würden, resp. der erste Zeitungsbund müsse davor bewahrt werden, dass darin einfach das ‘unattraktive Abfallgemüse’, die ‘Krüppelstoffe’ platziert würden. Heute würde man sich vielleicht ein bisschen differenzierter ausdrücken wollen, dass aber die WoZ 90 für das Infolink-Kollektiv schwerwiegende, vermutlich irreversible strukturelle Veränderungen gebracht hat, scheint mir unbestreitbar.

1. Ein blinder Fleck verändert unsere Welt

Die Einführung der Computertechnologie hat das Kollektiv nach Effizienzkriterien neu strukturiert. Sie war einerseits eine notwendige Voraussetzung für die Expansionsstrategie der Infolink-Mehrheit und den ökonomischen Erfolg der WoZ, andererseits zerstörte sie Stück für Stück das basisdemokratische Selbstverständnis des Kollektivs. Die Ignorierung des politischen Charakters der neuen Technologie hat nicht nur Redaktionsparias geschaffen, sie lässt heute die Durchhierarchisierung des gesamten Betriebs schon fast als gottgewollt erscheinen.

Seit dem sogenannten Computerstreit auf der WoZ (1986)[1], der mit dem Aufbau der eigenen Satzabteilung mit Computersatzgeräten und der Kündigung von sechs Kollektivmitgliedern endete, hat sich das Infolink-Kollektiv nie mehr ernsthaft mit der politischen Kritik an technologischer Innovation auseinandergesetzt. Das ist von der Geschichte her erklärbar (der damals unversöhnlich konfrontativ ausgetragene Streit führte zu einer Art gruppendynamischem GAU); von der Sache her ist es ein Fehler. Das Kollektiv hat sich seither weitestgehend geweigert, die Konsequenzen der Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass neue Technologie nicht nur effizientere Produktionsanlagen, sondern auch andere Arbeitsorganisation bedeutet.

Nach dem Computerstreit geschah folgendes: Die eigene Satzabteilung arbeitete bald einmal effizient und billig, die WoZ kam – unter anderem wegen ihr – finanziell auf die Beine, konnte – unter anderem wegen ihr – an einen Weiterausbau denken und expandierte in der Folge auf allen Ebenen (Personal, Zeitung, Verlag). Was aber auch geschah, gleichzeitig und von der genannten Entwicklung untrennbar, war die Zunahme von hierarchischer Kontrolle und Steuerung der Informationsflüsse, von unumkehrbaren Abhängigkeiten und Arbeitsteilungen und von ungleicher Verteilung des soziokulturellen Kapitals, das die WoZ neben dem Geld auf die einzelnen Kollektivmitglieder auch abwirft.

Mit dem politischen Charakter von Technologie lässt sich erklären, dass eine sich technologisch aufrüstende Struktur, auch wenn sie sich weiterhin ‘Kollektiv’ nennt, Pariafunktionen schaffen muss (die Redaktionsparias sind übrigens gegenüber anderen Funktionen, in denen im Kollektiv gearbeitet wird, immer noch deutlich privilegiert).

2. Wir machen Dienstleistungsjournalismus

Die Gesamtredaktion teilt sich immer deutlicher auf in eine übergeordnete publizistisch-strategische und eine Dienstleistungsebene. Die Arbeit der ‘Inland aktuell’-Redaktion ist seit Lancierung der WoZ 90 auf die Dienstleistungsebene ‘abgesunken’.

1981 wurde die WoZ an der Weinbergstrasse redaktionell in einem einzigen Grossraumbüro gemacht. Inland, Ausland, Kultur, aber auch der Inserate- und Dienstleistungsbereich waren über die Pulte hinweg in ständigem Gespräch. Seither hat das Wachstum zu Arbeitsteilungen, räumlichen Absonderungen und zu unumkehrbaren Informationsvorsprüngen in den ausserredaktionellen Bereichen und bei den einzelnen redaktionell bearbeiteten Gebieten geführt (anders: zur ‘Professionalisierung’ der Arbeit). Mit der WoZ 90 wurde das, was man die publizistisch-strategisch wichtigen Positionen nennen könnte (und der Firmen-volksmund zu ‘Gärtchen’ verniedlicht hat), weiter ausdifferenziert, und es wurden Verantwortliche eingesetzt: Zu den autonomen Teilredaktionen Ausland und Kultur kamen Dossier und Panorama, die ihre Autonomie ausbauten, und die Gesellschaftseite (der ‘Seite 5’ gelang es nicht, sich abzusetzen). Diese publizistisch-strategisch wichtigen Positionen funktionieren heute mit weitestgehend delegierter Entscheidungskompetenz. Zwar dürfen alle Vorschläge machen oder im Status von freien MitarbeiterInnen Ideen und Texte einbringen, die publizistische Linie des Gefässes planen und lenken jedoch die Seitenverantwortlichen.

Das Inland hat demgegenüber den ‘Rest der Welt’ abzuhandeln, der in der entsprechenden Woche auch aktuell ist, jedoch in keinem der ‘Gärtchen’ eingeplant wird. Dadurch ist eine Prioritätenverteilung entstanden, die der Arbeit der ‘Inland aktuell’-Redaktion immer deutlicher Dienstleistungscharakter gibt. Wir haben dem nachzurennen, was zur Identifikation des Publikums mit der Zeitung beträgt, gleich wie die Wochenthemenredaktion diese Serviceleistung für die jeweils kommenden Wochen erbringt. Heute können das Geflecht von ‘Inland aktuell’-, Wochenthemen-, Foto- und Abschlussredaktion als Unterbau der publizistisch-strategischen Positionen gesehen werden. Dieser Unterbau produziert heute nicht ‘unattraktives Abfallgemüse’, sondern möglichst attraktives Beigemüse.

(En passant halte ich fest, dass sich spätestens seit der Lancierung der WoZ 90 verstärkt eine Korrelation zeigt zwischen dem universitär akkumulierten Bildungskapital und publizistisch-strategischer Mitbestimmungsmöglichkeit. Einfacher gesagt gilt immer mehr: Wer länger an der Uni sass, hat auf der WoZ redaktionell mehr zu sagen. Das war zwar immer ein wenig so, konnte aber im Rahmen des basisdemokratischen Redaktionsdiskurses in der ersten WoZ-Zeit als kritisch-solidarische Hilfestellungen für Ungeschultere besser akzeptiert werden. Je weniger die WoZ an Gesamtredaktionssitzungen, sondern in den autonomen Teilredaktionen geplant wird, desto mehr verfestigt sich diese akademische Mitbestimmungsvorherrschaft zum strukturellen Ungleichgewicht.)

3. Die Zeitung als Zweck oder als Mittel

Für die RedaktorInnen der Dienstleistungsebene ist ihre Arbeit das Mittel zum Zweck der Herstellung einer Zeitung. Für die RedaktorInnen der publizistisch-strategischen Ebene ist die Zeitung darüber hinaus das Mittel zum Zweck der Vermehrung des soziokulturellen Kapitals der Zeitung und ihrer MacherInnen.

Diese These kann instruktiv studiert werden am geplanten Veranstaltungszyklus ‘Neue Weltordnung’[2]. Die bestimmenden MacherInnen sind grösstenteils die redaktionell Verantwortlichen der publizistisch-strategischen Ebene. Der Zyklus ist für das Infolink-Kollektiv etwas Neues: Es wird ein Ereignis aus dem Boden gestampft, das (im Gegensatz etwa zu Kulturboykott oder Armeeinsatz an der Grenze, wo sich die WoZ als publizistisches Instrument innerhalb einer Bewegung brauchen liess) keinen interventionistischen Charakter hat (George Bush wird den Zyklus voraussichtlich nicht zur Kenntnis nehmen). Die WoZ tritt nicht als dokumentierendes oder abbildendes Medium, sondern als sich selbst inszenierende Institution öffentlich in Erscheinung (analog der WoZ-10-Jahr-Feier).

Weshalb? Verspätete Weiterführung der 10-Jahr-Feier? Kein Mensch erwartet von der WoZ noch weitere ‘Festivitäten’. Es wird gesagt, der Zyklus solle die innerlinke Debatte in der Schweiz über die Neue Weltordnung ankurbeln. Wer ‘Neue Weltordnung’ sagt, soll auch WoZ sagen müssen? Wenn es so gemeint wäre, hätte das Organ der Opposition im Land seit Altmeister rst’s Absichtserklärungen ihren leninistischen Avantgardeanspruch nie bierernster postuliert.

Aber geht es wirklich nur darum? Eine andere Bedeutung des Zyklus wird die sein: Es wird gezeigt werden (und nicht nur den Linken!), dass, wenn die WoZ pfeift, linke Kultfiguren aus allen Erdteilen auf die Flugzeuge hüpfen und anjeten.[3] Auf einer Metaebene bedeutet der Zyklus deshalb Machtdemonstration und Akkumulation von soziokulturellem Kapital. Im besseren Fall profiliert sich damit das Infolink-Kollektiv, im schlechteren einzelne ihrer ExponentInnen, die danach das Kollektiv zum Beispiel mit ihrem gestiegenen Marktwert konfrontieren könnten.

An dieser Stelle bitte die roten Köpfe abschminken! Mit dieser Kritik habe ich in keiner Weise die inhaltlichen Qualitäten des Projekts in Zweifel gezogen. Die Frage ist lediglich, warum die WoZ meint, diese Veranstaltungen im Sologang durchziehen zu müssen, statt zum Beispiel in einem Pool von veranstaltenden Organisationen, Gewerkschaften und Parteien mitzumachen.

4. Der Point of no return ist überschritten

Die drei thesenartigen Zuspitzungen beantworten mir tendenziell die Frage nach unserem Paria-Status: Die ‘Inland aktuell’-RedaktorInnen können sich genau dann als Parias sehen, wenn sie ihren Status mit jenem der publizistisch-strategischen Positionen vergleichen. Zur Änderung der Situation wäre ein redaktionelles Rotationsprinzip zu fordern: Rotierend sollen alle, die wollen, in publizistisch-strategischen Positionen arbeiten können und alle sollen mal Veranstaltungstipps und Inlandspots nageln müssen.

Angenommen aber, diese Forderung würde von der ‘Inland aktuell’-Redaktion (oder einigen ihrer Mitglieder) ernsthaft gestellt, würde voraussichtlich folgendes passieren: Zuerst die Gesamtredaktion, danach das gesamte Kollektiv würde sich in zwei Parteien spalten: in Effizienzrealos und in Kollektivfundis. Erstere wären (wie im Computerstreit) in der Mehrheit. Da die Forderung des Rotationsprinzips nicht ‘reformistisch’ in die WoZ 90-Struktur eingebaut werden kann, könnte sich der Streit (wenn genügend Leute Lust dazu hätten) wieder bis zu einer Kollektivkündigung zuspitzen.

Ist man jedoch – wie ich – der Meinung, die Forderung nach dem Rotationsprinzip sei bereits obsolet (weil in der WoZ 90-Struktur zu viele unumkehrbare Abhängigkeiten eingeführt worden sind), sagt man eher: Das Infolink-Kollektiv hat einen Point of no return überschritten. Es hat es in seiner Geschichte abgelehnt, den politischen Charakter der Technologie soweit zu reflektieren, dass der Bau einer ‘linken’ WoZ-Maschine denkbar geworden wäre. Die (zugegeben nach wie vor linke) Zeitung WoZ wird heute von einer – bestenfalls ziemlich originellen – kapitalistischen Firma hergestellt, die sich personalintensive Team-Management-Strukturen leistet: Darum ist der Lohn kleiner, dafür die Identifikation mit dem Betrieb grösser als in paternalistisch geführten kapitalistischen Firmen in der gleichen Branche. Die WoZ-Maschine arbeitet effizient und ist auf Wachstum programmiert. Es stehen an: Suche (und wenn möglich Kauf) eines grösseren WoZ-Hauses, der 5. Zeitungsbund, die Diversifikation der Produktepalette. Wer weiterhin Lust hat, wachstumskritische Argumente aufzusagen, kann das zum Gaudi der Realos tun. Verändern wird’s nichts (das WoZ-Wachstum wird nicht durch Argumente, sondern allenfalls dadurch gebremst werden, dass die wirtschaftliche Krise auf den Abostand durchschlagen wird).

Wäre ich noch in der Geschäftsleitung, würde ich an dieser Stelle mutig ausrufen: Erstens ist die WoZ ein beispielloses, weiterhin notwendiges Projekt linker Publizistik, zweitens floriert die Firma wie noch nie und drittens kann ja gehen, wem’s nicht passt. Als langsam aber sicher abtretender Fundi-Clown würde ich darauf antworten: Alles wahr! Dummerweise verschleiern diese drei Wahrheiten mehr, als sie offenlegen. Und dann würde ich eine kleine Nummer über den ideologischen Gehalt von ‘Wahrheit’ extemporieren und es wäre zum Brüllen vor Lachen.

Fredi Lerch, 23. November 1991»

[1] In WOZ Nr. 8/2012 hat der ehemalige Redaktionskollege as in einem Interview auf die Frage nach der «legendären Computerdebatte in der WoZ» so geantwortet: «Das war eine Scheindebatte. In Wirklichkeit war es ein Streit um die politische Ausrichtung: um die Frage, ob sich die WOZ als linkes Forumsblatt positionieren oder Verlautbarungsblatt einer ‘linken Avantgarde’ sein sollte.» Worum es – nach as scheinbar – ging, habe ich hier skizziert. Lesenswert zudem:

• Regula Bochsler: Die Linke und der böse Computer, in: NZZ Geschichte, Band Nr. 2, Juni 2015, S. 10ff.

• Stefan Howald: Links und bündig. WOZ Die Wochenzeitung. Eine alternative Mediengeschichte. Zürich (Rotpunktverlag) 2018, S. 69-76.

[2] Aus dem hier kritisierten Projekt ist später ein Buch geworden: Christina Koch [Hrsg.]: Schöne Neue Weltordnung. Die Zürcher Veranstaltungen. Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1992.

[3] Gemeint ist, dass – aus meiner heutigen Sicht eine bedeutende Leistung – an den verschiedenen Veranstaltungen in Zürich schliesslich Leute wie Eduardo Galeano, Jesús Diaz, Vananda Shiva, Fatema Mernissi, Louise Hanoune, Noam Chomsky und andere aufgetreten sind.

(23.11.1991; 31.08.2017; 05.03.+.03.06.2018)

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