Ein Preis für die WoZ

Einladung der WoZ-«Kultur»-Redaktion an die «liebe[n] Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter», zu denen als «Inland»-Redaktor, der ab und zu im Feuilleton dilettiert, auch ich gezählt werde: «Am 1. Dezember [1995, fl] kann die Kulturredaktion der WoZ vom Kanton Zürich eine Ehrengabe in Empfang nehmen. Sie ist uns für die Vermittlungsarbeit in Sachen zeitgenössische Literatur zugesprochen worden.» Aus diesem Grund wird zu einem Apéritif geladen. Gleichentags berichtet der «Tages-Anzeiger» zufälligerweise über die Pläne der Kantonsregierung, massiv Akutbetten und damit auch Stellen in den Spitälern abzubauen.

Sogar wenn dieser Entscheid gesundheitspolitisch diskutabel wäre, weil es in der Tat zu viele Akutbetten zu geben scheint, ist er doch zweifellos personalpolitisch problematisch. Meine erste Reaktion auf die WoZ-Einladung ist deshalb Empörung. Ich wälze die Idee, einen Brief zu schreiben, der die beiden Ereignisse polemisch verknüpft; ob es angehe, vom gleichen Kanton Geld für die Literaturvermittlung zu kassieren, der gleichzeitig aus Spargründen Leute auf die Strasse stelle. Die zweite Reaktion: Ich werde diesen Brief nicht schreiben. Meine Empörung ist nicht (mehr) vermittelbar, warum, begreife ich erst jetzt.

Das Feld der Literaturvermittlung, auf dem sich die WoZ-«Kultur» unterdessen aus staatlicher Sicht prämierungswürdig bewegt, hat inhaltlich nichts mit dem Feld der Gesundheitspolitik zu tun, meine polemische Verknüpfung wäre demnach ein irrationales Junktim. Das Junktim würde erst rational, der Widerspruch erst dann evident, wenn Gesundheitspolitik und staatliche Personalpolitik als Teil des gleichen Kulturverständnisses gesehen würden, unter dem auch die zeitgenössische Literatur zu subsummieren ist. Dann freilich wäre der staatliche Preis die billige Einbindung einer Instanz, die als potentielle Opposition befriedet werden soll. Diese Sichtweise gilt heute auf der WoZ, vielleicht zu Recht, als «fundamentalistisch», insofern Fundamentalismus – nach Talcott Parsons – ein «Aufstand» ist «gegen die rationalistische Tendenz in der westlichen Welt insgesamt und zugleich gegen ihre tiefsten institutionalisierten Grundlagen».[1] Die Diskussion um die Zulässigkeit des Junktims ist deshalb Teil der umfassenderen um eine rationale Weltsicht überhaupt.

Als rational gilt heute tendenziell die Segmentierung des (kultur-)politischen Raums in untereinander argumentativ nicht mehr verbundene Felder, auf denen je «irgendwie» agiert werden kann – solange dieses Agieren innerhalb des einzelnen Feldes als «rational» erscheint. Diese Feld-Rationalität erhöht den Handlungsspielraum und die Flexibilität der Agierenden innerhalb ihres Feldes. Mir bleibt sie vorderhand suspekt.

So klar es schliesslich gewesen ist, den Brief nicht zu schreiben, so klar war es freilich auch, dass ich nicht nach Zürich zum Apéritif der Ausgezeichneten gefahren bin.

[1] Nach Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1995, S. 2.

(28.12.1995; 29.08.2017; 03.06.2018)

 

Nachtrag 1

Dieser letzte Satz ist wohl verräterisch: Nach Zürich gefahren bin ich vermutlich auch deshalb nicht, weil mich die WoZ nicht in die Delegation aufgenommen hat, die damals zur Preisverleihung geschickt wurde. In diesem Punkt wäre ich auf jeden Fall zu Recht frustriert gewesen, scheint mir heute, hatte ich doch all die Jahre zuvor zur Vermittlung zeitgenössischer Literatur in der WoZ genügend beigetragen, um in dieser Delegation nicht als Fehlbesetzung angesprochen werden zu müssen. Aber das ein bisschen peinliche Werkstück zeigt eben auch, inwiefern ich als Mitglied eines Kollektivs ungeeignet gewesen bin. Statt zu sagen: Ich bin frustriert, habe ich mich in ideologische Verbalradikalitäten verbohrt und meine Frustration – nehme ich an – bei nächster Gelegenheit auf der Zürcher Redaktion averbal zum Ausdruck gebracht.

(11.11.2005, 10.10.2008)

 

Nachtrag 2

Abgesehen von dieser Selbstpsychologisierung – da will ich mir nicht widersprechen, ich bin ja auch ich und kenne mich – finde ich das Argument von der Segmentierung des (kultur-)politischen Raums heute wieder interessant. Wobei «Feld-Rationalität» nicht nur den Handlungsspielraum und die Flexibilität der Agierenden innerhalb ihres Feldes erhöht, sondern auch probat zur Komplexitätsreduktion der Wirklichkeit beiträgt: Kantonale Gesundheitspolitik denken zu müssen, wenn es doch um Literaturvermittlung und erst noch um die staatliche Verleihung von kulturellem und sozialem Kapital geht, ist schon etwas kompliziert.

Umgekehrt führt diese Komplexitätsreduktion auf den einzelnen Feldern eben auch zum Fachidiotentum, dessen Schwäche vermutlich gerade das Versagen vor einer felderübergreifenden Rationalität ist. Für mich klar ist: Je eloquenter mir all die ExpertInnen auf allen Kanälen über ihr Fachgebiet redend die ganze Welt erklären, desto misstrauischer muss ich mich fragen: Sind diese feldrationalistischen Erklärungen – vielleicht hier präziser: Frames[1] – in einem felderübergreifenden Sinn überhaupt rational?  

[1] Unter dem Lektüreeindruck von: Elisabeth Wehling: Politisches Framing. Köln (Halem) 2016.

(29.08.2017; 03.06.2018)

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