Das Schweigen der ct

Als ich auf der WoZ-Redaktion in Zürich etwas zu früh in den grossen Sitzungsraum komme, sitzt dort die Kulturredaktorin ct im Gespräch mit einer Stagière. Als ich eintrete, zeigt sie auf mich und sagt, in diesem Punkt sei ich der Spezialist. – Worum es gehe? – Um die Diskussion, dass das Widerständige in der Kunst, ihr kritisches Potential, von der Gesellschaft dauernd aufgesogen und neutralisiert werde.

Das sei so, bestätige ich, auf jeden Fall ab dem Moment, in dem sich die Kunst auf den Markt begebe und damit zur Ware werde. In dem Moment würden die KünstlerInnen zu WarenanbieterInnen, zu KleingewerblerInnen und könnten von ihrer gesellschaftlichen Interessenlage her eigentlich in die SVP eintreten – ganz egal, wieviel kritische Ambition sie in ihr Werk gepackt hätten.

Kurzes Schweigen. Bevor ich eine weitere polemische Spitze anfügen kann, führt ct ihr Gespräch mit der Stagière weiter. Wenn ich die Kunstproduktion als Kleingewerbe mit der dazugehörigen Bewusstseinslage anspreche, antwortet sie mir nie. Aber ihr immer ein wenig pikiertes Nicht-Antworten drückt regelmässig aus, dass man einen, der so daherrede wie ich, im Diskurs über Kunst einfach nie werde ernst nehmen können.

Dabei würde mich wirklich interessieren, woher sie die Hoffnung nimmt, dass jemand, der am Markt eine «schräge» Musik, ein «starkes» Bild oder ein «schönes» Gedicht anbietet, qualitativ etwas Anderes tut als jemand, der eine «treffsichere» Pistole, eine «nahrhafte» Karotte oder «elastische» Hosenträger anpreist. Am Markt entscheidet ja nicht der ideelle Schein des Produkts. Dort entscheidet allein die Warenästhetik, die den Tauschwert als Gebrauchswert begehrenswert erscheinen lässt. Im Moment des Kaufs verschwindet der Gebrauchswert vollständig hinter dem Tauschwert: Kunst am Markt wird restlos zum Äquivalent für eine bestimmte Menge Geld. Alles andere existiert in diesem Moment nicht – oder höchstens als theoriegestützte Illusion in Phil-einer-Köpfen.

Soweit dieses Syndrom im Pressewesen virulent ist, kann ich es nicht anders denn als «Feuilletonismus» bezeichnen. Der «Feuilletonismus» ist der Schein von Kunstkritik, weil er nicht fähig (oder willens) ist, das Verhältnis von Kunst und Markt zu kritisieren. Daher kommt es, dass sogar eine WoZ-Stagière des «Kulturressorts» ratlos ist vor dem Phänomen, dass Kunst innerhalb des Markts aufgesogen, neutralisiert und zum leeren Cocon wird.

Noch die beste Kunst innerhalb des Markts ist eine harmlose Kunst: weil sie sich dem Markt unterworfen hat, bevor ihre Rezeption möglich wurde. Und noch die schlechteste Kunst ausserhalb des Markts birgt ein Quentchen wertvolle Unruhe: weil sie im Moment ihres marktunabhängigen Erscheinens die Utopie einer nicht-warenförmigen öffentlichen Kommunikation weiterträgt in die Zukunft.

(24.05. + 02.06.1994; 24.08.2005; 29.08.2017; 03.06.2018)

 

Nachtrag

Zu meiner Polemik gegen die Phil-einer-Köpfe, die Gebrauchswert sähen, wo es keinen gebe:

Ich stand damals unter dem Einfluss meiner Lektüre von Büchern über die Postmoderne. Zum Beispiel hatte ich bei Frederic Jameson über die «Kultur des Simulakrum» gelesen, wobei er unter Simulakrum «die identische Kopie von etwas» versteht, «dessen Original nie existiert hat». Jameson: «Die Kultur des Simulakrum tritt in einer Gesellschaft ins Leben, in der der Tauschwert so weit generalisiert wurde, dass sogar die Erinnerung an Gebrauchswerte erloschen ist.»[1]

Später bin ich bei Gerhard Hauck auf das gleiche Jameson-Zitat gestossen. Dieser fasste es in der schönen Wendung vom «Erlöschen des Gebrauchswerts im Tauschwert» zusammen und wies darauf hin, dass das Argument zuvor auch schon von Jean Baudrillard verwendet worden sei.[2]

Ich habe die Angewohnheit, exakt ausgelesene Bücher mit dem Datum des Lektüreabschlusses zu versehen. Das Buch von Hauck trägt das Datum des 1. Juni 1994, am Werkstück arbeitete ich am 2. Juni.

Dass ich im Übrigen ct als eine scharfsinnige und integre Kollegin geschätzt habe, sei hier nur der Vollständigkeit halber festgehalten.

[1] Frederic Jameson: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe [Hrsg.]: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg (rowohlt) 1986, S. 63.

[2] Gerhard Hauck: Einführung in die Ideologiekritik. Berlin (Argument-Verlag) 1992, S. 234.

(10.11.2007; 29.08.2017; 03.06.2018)

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